: Plastikbrüste statt Clownsnasen
Es ist die größte Party – und auch der längste Laufsteg der Welt. Nirgends sonst trainieren Menschen so hart, um gut auszusehen. Aber wenn in Rio der Karneval gefeiert wird, ist es auch eine Leistungsshow der plastischen Chirurgie
Der Karneval in Rio de Janeiro beginnt am Freitag vor Aschermittwoch. Die prächtigen Umzüge der Sambaschulen – Escola de Samba – sind die Attraktion der Stadt. Jede Sambaschule wählt jährlich ein Thema, und entsprechend werden die Festwagen und die Kostüme dann vorbereitet. Etwa 700.000 Touristen sind dieses Jahr in Rio, um sich das Spektakel anzuschauen. Am Aschermittwoch endet die Saison. CAK
AUS RIO DE JANEIRO BENEDIKT SARREITER
Grazielli Massafera macht keine Pause. Seit einer halben Stunde verausgabt sich die 25-Jährige mit den blond gefärbten Haaren, schüttelt ihren zierlichen Körper in rasender Geschwindigkeit zum treibenden Beat der Rhythmusgruppe. Ein Sänger plärrt immer wieder den gleichen Song in Endlosschleife, es ist das Lied von „Grande Rio“, eine der größten Sambaschulen Rio de Janeiros. Die Schule hat kurz vor Karneval etwa 500 Leute eingeladen, um sie auf das diesjährige Faschingsspektakel einzustimmen.
Gekommen sind Exfußballer mit ihren Exfrauen, Telenovela- Sternchen, Vertreter aus Mittel- und Oberschicht und dem Zwielicht. Sie haben Feijoada gegessen, einen Bohneneintopf mit allem vom Schwein, von Ohr bis Schwänzchen – das brasilianische Nationalgericht. Nun singt jeder den Grande-Rio-Song mit, viele recken ihre Digitalkameras in die Höhe, um ein Foto von Grazielli Massafera auf der Bühne zu schießen. Grazi, wie sie alle nennen, ist der Star, die Rainha de Bateria – die Königin der Rhythmusgruppe. Sie trägt ein weißes T-Shirt und weiße Jeans, nur ihre Füße sind nackt. Bei den eigentlichen Karnevalsumzügen ist es anders. Dann präsentiert sich die Sambaschule „Grande Rio“ durch das Sambódromo in Rio. Grazi zuckt mit den Hüften, fast nackt. Sie zeigt stolz ihre Brüste, die mit zwei Silikonsäckchen vergrößert wurden.
Models, Novela-Schauspielerinnen oder Big-Brother-Teilnehmerinnen werden zur Rainha de Bateria gewählt. Fast alle haben sich mindestens einmal für den Playboy ausgezogen. Auf vielen Bildern, die vom Karneval in Rio um die Welt gehen, lächeln Grazi und Kolleginnen mit weiß gebleichten Zähnen in die Kameras. Wie sie wollen viele Mädchen aussehen. In den letzten zehn Jahren ist die Zahl der Teenager mit Silikonimplantaten um 300 Prozent gestiegen. Die makellosen Tänzerinnen sind die besten Werbeträger für die ästhetische Chirurgie, suggerieren sie doch, dass ähnliche Schönheit mit ein paar Schnitten eines Skalpellvirtuosen leicht zu erreichen ist. Aus ihren Behandlungen machen die Rainhas, die Königinnen der Rhythmusgruppen, kein Geheimnis. „Ich hatte oben rum fast nichts, da musste ich etwas tun!“, hat Grazi einmal auf die Frage geantwortet, ob sie an ihrem Körper etwas verändern ließ. „In Brasilien hat die plastische Chirurgie nichts Mystisches mehr. Eine Europäerin würde nicht einmal ihrer besten Freundin von einem Eingriff erzählen, eine Brasilianerin spricht darüber mit jedem“, sagt Paulo Müller, Schönheitschirurg und Branchenstar.
Körper, komplett überholt
In Brasilien treiben Chirurgen und Presse die Entmystifizierung voran und erhöhen dadurch den Druck auf die Frauen. In den Wochen vor Karneval schalten die Kliniken für plastische Chirurgie Anzeigen mit Slogans wie: „Machen sie sich bereit! Der Karneval ist da!“ Was so viel heißen soll: „Unterziehen sie Ihren Körper einer Komplettüberholung! Sonst können Sie beim Karneval nicht glänzen.“ Und während in Deutschland Frauenmagazine ab und zu mal die Vor- und Nachteile der Schönheitsoperationen diskutieren, gibt es in Brasilien mehrere Zeitschriften, die sich ausschließlich mit den Errungenschaften der Schönheitsindustrie befassen und sie anpreisen.
Eine von ihnen heißt Plástica & Beleza – Plastische Chirurgie & Schönheit. Im Editorial der letzten Ausgabe rät Chefredakteurin Cibele Carbone ihren Lesern, sich vor einen Spiegel zu stellen, ihre Problemzonen mit einem Stift zu markieren und dann ihr Magazin zu lesen. Für jedes Körperteil gebe es eine Lösung, zum Beispiel den einfachen Weg zur Idealnase oder Fettabsaugung à la Beverly Hills, die Rettungsringe schonend in straffe Bäuchlein verwandelt.
Es entsteht der Eindruck, ein Facelift, ein chemisches Peeling, eine Botoxspritze wäre eine Banalität wie ein Friseurbesuch.
Und die Propaganda wirkt. Brasilien liegt mittlerweile hinter den USA an zweiter Stelle bei der Anzahl an Schönheitsoperationen, 63 Prozent aller Brasilianerinnen wünschen sich eine ästhetische Behandlung – dagegen nur 25 Prozent der Amerikanerinnen. Um einen Körper wie Grazi oder Gisele Bündchen, dem Körpervorbild schlechthin, zu bekommen, scheinen die Frauen im größten Land Südamerikas alle Hemmungen beiseite zu schieben. Verspricht doch ein von Kopf bis Fuß lupenrein geshapter Look die Möglichkeit zu Reichtum, Berühmtheit oder dem großen Auftritt bei Karneval – und natürlich Schutz vor dem unbarmherzigen Blick des brasilianischen Machomannes.
„In der heutigen brasilianischen Kultur sehen Personen aus der Mittel- oder auch der Unterschicht ihren Körper als Vehikel für den sozialen Aufstieg, der Körper ist ihr Kapital“, sagt die Soziologin Mirian Goldenberg aus Rio de Janeiro. Vor allem Frauen investieren in dieses Kapital. Sie kaufen Kosmetik, färben ihr Haar und ihre Nägel (in keinem Land der Welt wird mehr Nagellack und Haarfarbe verkauft), sie stählen sich in Fitnessstudios und stottern beim Chirurgen ihres Vertrauens die Raten für das letzte Brustimplantat ab. Die Glorifizierung des jugendlichen, dünnen, sexy Körpers erreiche gerade ihren Höhepunkt, glaubt Goldenberg. Sie geht einher mit der Befreiung von Prüderie und der immer exzessiveren Feier des nackten oder halbnackten Körpers in Magazinen, im Fernsehen und im Kino. Das Ende religiöser Keuschheit brachte aber neue Regeln mit sich, die Moral der Fitness. Der Regelkatalog verlangt strenge Selbstdisziplinierung im Auftrag des wohlgeformten, gesunden Daseins. Auch in Deutschland propagieren ihn Lifestylegazetten und treiben Jung wie Alt aufs Laufband. Der Unterschied in Brasilien ist aber, dass das Fitnessstudio nur ein Puzzlestück auf dem Weg zum Gesamtkunstwerk Körper ist. Und Altern ist noch weniger erlaubt als in den Industrienationen des Westens. Besonders in Rio de Janeiro gibt es über 40- jährige Frauen, die wie 25 aussehen – Identitätsmanipulation durch Chirurgenhände. „Es gibt Familien, in denen sich Großmutter, Mutter und Tochter im gleichen Stil kleiden und in den gleichen Geschäften einkaufen“, erzählt Goldenberg. Wichtig ist in Brasilien aber weniger das Darüber als das Darunter.
Klamotten als Ornament
Der französische Anthropologe Stéphane Malysse untersuchte, wie sich Französinnen und Brasilianerinnen in der Selbstinszenierung unterscheiden. Während die Damen in Frankreich versuchen, mit dem Schnitt oder der Farbe der Klamotten ihrem Körper eine neue Struktur zu geben und Schwachstellen zu kaschieren, stellt die Brasilianerin den ihren bereitwillig aus. Die Kleidung zeichnet die Körperformen genau nach, „sie sind dazu da, diese noch mehr hervorzuheben. Klamotten sind nicht mehr als ein bloßes Ornament“, schreibt Malysse. Die Mode ändert sich vor allem in Rio de Janeiro kaum, die Tops sind eng, die Röcke knapp, die Bikinis fast nicht vorhanden. Der Körper wird der Kleidung angepasst. Er ist wechselnden Trends unterworfen.
Kunstwerke aus Silikon
Welches Aussehen gerade gefragt ist, lässt sich leicht bei einem Sonntagsspaziergang in Ipanema feststellen. Wenn die Strandstraße Viera Souto für Autos gesperrt ist, flanieren die Cariocas über den heißen Asphalt, einige zeigen ihren designten Leib. Nach dem sechsten Typen mit der gleichen, unbeweglichen, nach Brad Pitts Oberkörper stilisierten Brust, weiß man, auch Männer sind Implantaten nicht abgeneigt. Viele Frauen sind blondiert, ihre Brüste sind nicht Hollywood-mäßig aufgeblasen, sondern eher klein und mit Silikon in die richtige Form gebracht.
Ihre Hintern haben Apfelform, sie sind straff, sie sind alle gleich – der Brazilian Butt, den mittlerweile auch New Yorker Chirurgen im Programm haben. Körperbehaarung ist verpönt, Totalepilation Standard. Die jungen und jung gebliebenen Mitglieder der Mittelschicht auf der Viera Souto imitieren die Körper von Grazi, Gisele Bündchen oder von Hollywood – und Rockstars. Sie präsentieren eine fehlerfreie Physis ohne Falten, Fett und Flecken. Die Soziologin Mirian Goldenberg sagt, in Brasilien und insbesondere in Rio sei der fitte, makellose, reine Körper die einzig wirklich angemessene Kleidung, da er von allen akzeptiert wird. Und tatsächlich wirken die entblößten Leiber der Tänzerinnen beim Karnevalsumzug nicht nackt, sondern eher wie ein Panzer gegen die Kameras, den männlichen Blick, gegen die übertriebenen Schönheitserwartungen einer Gesellschaft. Die Körper sind nicht unterscheidbar, sie entziehen sich jeder Bewertung, sie sind weder schön noch hässliche, sie sind nur perfekt trainiert und operiert. Die brasilianische Versessenheit nach Idealisierung darf als Warnung verstanden werden. Chirurgen arbeiten nach Idealbildern. Ein Idealkörper hat kein Geheimnis mehr, er ist erwartbar, ihm fehlt jede Erotik. Das vermeintlich Hässliche ist das Besondere und damit das Schöne. Es muss erhalten bleiben.