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Archiv-Artikel

Barocke Zeitenwende

Vivaldis „Il Giustino“ in Oldenburg steht für zweierlei: die Re-Barockisierung der Theaterspielpläne und die geglückte Eroberung der neuen Spielstätte. Denn in der großherzoglichen Exerzierhalle zeigt die fast ausschließlich weibliche Besetzung Hochleistung

In einer Woche, wenn „Fredegunde“ Premiere hat, endet an der Bremer Oper die barocklose Zeit. Die selten gespielte Oper des Hamburger Komponisten Reinhard Keiser, seit 1985 die erste Barockoper im Repertoire des Hauses, soll Auftakt zu nunmehr jährlichen Produktionen sein. Auch im benachbarten Oldenburg ist die Re-Barockisierung des Spielplans im vollen Gang. Hier macht Antonio Vivaldis „Il Giustino“ den Auftakt. Sämtliche Aufführungen des „Dramma per musica“ um den byzantinischen Bauersohn, der in die Liebes- und Machtintrigen am Kaiserhof verwickelt wird, sind ausverkauft.

Einen derart durchschlagenden Publikumserfolg hatte der noch recht neue Oldenburger Generalintendant Markus Müller, der die Produktion der an seinem Haus als Regieassistentin tätigen Katrin Knopp übertrug, wohl selbst nicht erwartet. Im Staatstheater gingen sogar Drohanrufe von enttäuschten Kartenlosen ein, berichtet Müller – sie alle müssen auf die Wiederaufnahme des Werkes in der kommenden Spielzeit vertröstet werden.

Dann allerdings wird „Il Giustino“ im neobarocken Ambiente des Staatstheaters gezeigt – und verliert damit seine Verortung in der „Exerzierhalle“, die in vielerlei Hinsicht zum Erfolg der Inszenierung beiträgt. Die 65 Meter lange, aber nur 14 Meter breite Backsteinhalle, in der früher die großherzoglichen Truppen gedrillt wurden, gehört seit Beginn der Spielzeit zum Oldenburger Staatstheater. Ein 940.000 Euro teurer Umbau, zur Hälfte durch den europäischen Fonds für regionale Entwicklung finanziert, hat den Backsteinschlauch in der Mitte geteilt und mit zwei wechselweise zu bespielenden Bühnen samt in der Mitte gelegener Bar ausgestattet. Jetzt haben je 99 ZuschauerInnen einen Raum vor sich, der einerseits als klassischer „Guckkasten“ funktioniert, andererseits auch als flexible Raumbühne taugt. Für „Il Giustino“ hat Ausstatterin Gesine Kuhn eine umlaufende Galerie einbauen lassen, davor lagern stilisierte Sanddünen samt gestrandetem Kronleuchter. Die übrigen Lüster hängen noch von der Decke und barockisieren das ansonsten von Backstein und dem offenen Holz des Daches geprägte Setting.

Gerade die Abwesenheit eines Orchestergrabens erleichtert den SängerInnen ihre Arbeit: Statt die akustische Wand ihrer zahlreichen InstrumentalkollegInnen durchdringen zu müssen, agieren sie unangestrengt unmittelbar vor dem Publikum. „Il Giustino“ ist dabei fast ausschließlich eine Frauenangelegenheit, was sozusagen Ergebnis eines langfristigen Gender Mainstreamings ist: Während Vivaldi sämtliche Partien wegen der strengen Regeln des römischen Kirchenstaates mit (gegebenenfalls kastrierten) Männern besetzen musste, sind diese damals sehr beliebten Rollen seit dem Aussterben der Kastraten den Frauen zugefallen.

Die Oldenburger Sängerinnen nutzen ihre Chance mit bemerkenswerter Ausnahmslosigkeit zu stimmlichen Hochleistungen. Insbesondere Marcia Parks, die innerhalb der insgesamt eher sparsamen Regiesetzungen auch szenisch sehr beeindruckend agiert: Sie gibt dem Verräter Amnazio, ein zwischen Hofschranze und Miss Marple oszillierendes Profil, am Schluss setzt sie sich selbst und diesem Gesellschaftsspiel um Illoyalität versus Sehnsucht nach Verlässlichkeit bravourös die Krone auf. Nathalie Senf als aufsteigender Außenseiter Giustino fasziniert durch ihre androgyne Ausstrahlung, Ulrike Ludewig singt einen samtweichen und doch sehr fest konturierten Mezzosopran.

Auch das Oldenburger Staatsorchester unter Olaf Storbeck, im Musiktheater lange vornehmlich mit Mozart & Co beschäftigt, bemüht sich samt dazu gekaufter Barocklaute wacker um ein nicht allzu romantisches Klangbild. Gewiss: Eine Theorbe macht natürlich noch keinen (Barock-)Frühling. Aber sicher ist auch, dass sich die MusikerInnen künftig regelmäßig dem etwas schrofferen und angenehm vibratofreien Timbre barocker Kompositionen hingeben können. Henning Bleyl