Wahrheit über Realityshows: Zoom auf die Tränen
Sie streiten, schimpfen, weinen – und nehmen sich auch manchmal in den Arm. Sie spielen Alltag für die Kamera. Wie sich Familien vom Privatfernsehen verführen lassen.
Melina, 16, sitzt in einem Café. Sie knetet ihre Hände, ist nervös. Gleich kommt er rein – ihr Flirt aus dem Internet. Die Kamera ist an, das Licht eingerichtet, der Ton gecheckt. Die Tür geht auf, ein schmächtiger Junge kommt herein.
Als er Melina sieht, beschimpft er sie lauthals als "fett" und mit einer ganzen Reihe von Tiernamen. Dann schmeißt er Geld auf den Tisch und verlässt das Lokal. Melina ist geschockt.
Die Kamera zoomt auf ihr Gesicht, ganz nah, auf der Suche nach Tränen. Das gehört dazu, Melina spielt in einer Scripted-Reality-Serie mit. Da soll es Drama geben. Das ist drei Jahre her, doch wegen ständiger Wiederholungen verfolgt sie das Ganze bis heute.
Erfunde Geschichten
"Es war ein riesiger Fehler, da mitzumachen", sagt Melina heute. Damals war das Format, in dem Familienkonflikte geschauspielert werden und dabei trotzdem möglichst echt wirken sollen, noch relativ neu. "Ich hatte die Sendung ein paarmal gesehen und dachte immer, das ist alles echt", sagt Mutter Beate Meyer, 42. Sie wohnt mit ihren fünf Kindern in einem Plattenbau einer deutschen Großstadt.
Mit dieser Meinung ist sie nicht allein. Eine Studie sagt, dass nur 22 Prozent der Zuschauer zwischen sechs und 18 Jahren davon ausgehen, dass die Geschichten in Sendungen wie "Familien im Brennpunkt" und "Die Schulermittler" erfunden sind. "Ich dachte, die begleiten mich ein bisschen mit der Kamera", sagt Melina. "Das ganz normale Leben eben."
Aber dann musste sie sich im Dienste der Serie mitten in einem Café beschimpfen lassen, Süßigkeiten in sich hineinstopfen und zigmal ihre Zimmertür zuknallen. Bis es ihr genug war und sie aussteigen wollte.
Aber sie kam aus der Privatfernsehen-Maschinerie nicht mehr heraus. Begonnen hat alles mit einem Anruf. Die älteste Tochter der Familie und Beate Meyer waren damals bei demselben Sender, der auch die Scripted-Reality-Serie ausstrahlt, in einer Talkshow zu Gast. Es ging um Frauen, die trotz Schwangerschaft rauchen – so wie Beate Meyers Tochter.
"Die hatten unsere Nummer von der Redaktion von dieser Talkshow", sagt Beate Meyer. Eine Praxis, die nicht unüblich ist. Oft rufen Fernsehproduktionsfirmen nach der morgendlichen Zeitungslektüre bei ihren Kollegen an, um die Nummern von Protagonisten zu erfragen, deren Geschichte sie sich zumindest im Kern auch bei sich vorstellen können.
Kontakt ohne Zögern
Manche Journalisten geben dann ohne Zögern die Kontaktdaten ihrer Gesprächspartner heraus. Als das Handy der ältesten Tochter klingelt, ist sie gerade mit ihren kleinen Geschwistern und der Mutter auf dem Spielplatz. Der Konflikt zwischen der rauchenden Schwangeren und Beate Meyer, die dagegen ist, soll für eine Reportage gefilmt werden.
Nach ein paar Minuten Gespräch gibt die junge Frau das Telefon weiter an ihre Mutter. "Der Redakteur fragte mich, ob wir noch mehr zu bieten haben", sagt Beate Meyer. Sie erzählt von ihrer stark übergewichtigen Tochter. Der Mann am anderen Ende der Leitung antwortet, dass das ja "eine tolle Geschichte" sei und sie Melinda doch überreden solle mitzumachen. "Die andere habe ich ja schon so weit."
Und dann kam das Geld. 1.200 Euro hat die Familie für ihr Laienschauspiel erhalten. "Da klimpert es natürlich in den Ohren", sagt Melinda. "Das Geld hat uns schon gelockt", sagt ihre Mutter. Außerdem habe der Sender versprochen, der Familie zu helfen – sogar von der Finanzierung eines Magenbands sei die Rede gewesen.
"Aber das waren alles leere Versprechen", sagt Beate Meyer. "Und manchmal ist man eben etwas naiv." Bereits ein paar Tage später besucht ein Kamerateam die Familie zum Casting. In zehnminütigen Einzelinterviews sollen sie noch einmal erzählen, wie sie zum Rauchen der einen Tochter und zum Übergewicht der anderen stehen.
Die Sendungsleitung gibt nach der Sichtung der Filme ihr endgültiges Okay und es geht richtig los. Am ersten Drehtag bringt der verantwortliche Redakteur ein Script mit. Familie Meyer wird es nie zu Gesicht bekommen. Vor jeder Szene wird ihnen gesagt, was sie zu machen haben. Zwanzig Mal schlägt Melinda ihre Zimmertüre zu, 20 Mal rennt ihre Mutter ihr hinterher, 19 Mal brechen die beiden in Lachen aus, weil der Streit, den sie nun spielen sollen, so gar nicht zu ihrem Verhältnis passt. Nach ein paar Stunden legt der Redakteur einen Vertrag vor.
Beate Meyer unterschreibt. "Ich hatte nicht die Zeit, ihn durchzulesen", sagt sie. Zeit, die sie sich hätte nehmen sollen. Denn neben der Klausel Stillschweigen über die Dreharbeiten behalten zu müssen, steht darin auch, dass sie sich verpflichten, die Regieanweisungen umzusetzen. "Es tut mir leid, was ich meinen Kindern damit angetan habe", sagt die alleinerziehende Mutter.
"Ich habe mich zu sehr auf die mündlichen Absprachen verlassen." Nur einer ihrer Söhne, der damals im Grundschulalter war, hat Glück. Als er am ersten Drehtag gegen Mittag nach Hause kommt, passt er laut Redakteur nicht mehr in die Geschichte. Schließlich gibt es mit ihm ja keine Probleme. Ein ganzes Familienmitglied wird einfach aus der Handlung gestrichen. Nicht die einzige Verfälschung, die das Ganze dem "Scripted" viel näher bringt als der "Reality".
Einmal musste sich Melinda nach einem gestellten Streit mit ihrer Mutter auf die Couch legen und ohne Unterlass eine ganze Tüte Marshmallows in sich hineinstopfen. "Dabei mag ich die gar nicht", sagt sie. Ja, sie wiege zu viel, aber sie bevorzuge eher herzhaftes Essen. Außerdem sollte Melinda laut Drehbuch von der Familie vernachlässigt und verhöhnt werden. "Das war eigentlich das Schlimmste", sagt Beate Meyer heute.
"Wir mussten alle am Tisch sitzen und sie fertig machen." Worte, die nun mal im Drehbuch standen und der Mutter – obwohl sie nicht echt waren - weh taten. "Ich wurde auch ein paar Mal gefragt, ob ich jetzt nicht losweinen könnte", erinnert sich Melinda.
"Sie sagten, Zwiebeln schneiden würde helfen." Aber Melinda weigerte sich. Dann hat der Redakteur die Idee, dass die 16-Jährige doch eine Internetliebe haben könnte. Sie wurde gefragt, wie ihr Traumtyp aussehe, damit man bei der Agentur den richtigen Schauspieler bestellen könne. Augen- und Haarfarbe waren ihr egal. Er sollte nur groß und kräftig sein. "Sonst sieht das ja total bescheuert aus, wenn wir nebeneinander stehen", sagt Melinda.
Keine Tränen
Dann setzte das Fernsehteam sie in ein Café, gab ihr nur die Anweisung, spontan zu reagieren, und sagte dem Darsteller von der Agentur, wie er sie beleidigen solle. Aber auch diesmal vergießt Melinda keine einzige Träne. Zumindest nicht vor der Kamera. "Ich habe in dieser Zeit so oft geweint", sagt sie. "Ich wollte nicht mehr mitmachen."
Sechs Tage wurde gedreht. Dazwischen gab es immer wieder mehrere Tage Pause, in denen Melina mit Außenstehenden über die Dreharbeiten spricht, viel nachdenkt und eine Entscheidung trifft: Sie will das nicht mehr. Sie überzeugt den Rest in der Familie davon, die Sache abzusprechen.
Beate Meyer rief den Redakteur an. "Aber der hat mich unter Druck gesetzt", schildert sie das Gespräch aus ihrer Perspektive. Die Worte Vertragsbruch, Klage und Kostenerstattung seien gefallen. Die Mutter knickte ein. Sie wusste sich einfach nicht zu helfen. Im Herbst darauf wird die Sendung ausgestrahlt. Die Familie schaut sie sich gemeinsamen an. "Wir haben die ganze Zeit nur gelacht, weil so waren wir ja nicht in Echt", sagt Beate Meyer.
"Aber wenig später fanden wir das alles gar nicht mehr lustig." Die Mutter wurde auf der Straße angesprochen, ob es bei ihr zu Hause wirklich so schlimm zuginge. Die Kinder wurden in der Schule mit der Sendung aufgezogen und beschimpft. Melinda bekam Nachrichten auf Facebook von Leuten, die über ihre gemeine Mutter lästerten und ihr Mut zusprachen. "Dabei ist in unserer Familie alles in Ordnung", sagt die heute 19-Jährige. Sogar bei einem Ausflug nach Bottrop wurde die Familie erkannt. Und so läuft es seit mehr als drei Jahren, denn die Folge wurde gut ein halbes Dutzend Mal ausgestrahlt – zuletzt im vergangenen Sommer.
"Und jedes Mal muss ich mich wieder vor allen, die es gesehen haben, rechtfertigen", sagt Beate Meyer. "Dabei ist die Sache für uns vorbei."Zumindest bis zur nächsten Wiederholung.
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