: Der Wille der Lehrer zählt
Der Bildungssenator entbindet die Schulen von der Pflicht, ab Herbst Klasse eins und zwei zusammen zu unterrichten. Ob sie das gemeinsame Lernen doch einführen, hängt vom Einsatz der Lehrer ab
VON ANNA LEHMANN
Ilona Hedenus ist Überzeugungslehrerin. Sie unterrichtet an der Gottfried-Röhl-Grundschule im Wedding die Klasse 3 und 4 – und zwar zusammen. „In einer gemischten Gruppe kann ich dem einzelnen Kind besser gerecht werden, seine Stärken und Schwächen besser einschätzen“, lobt Hedenus die Vorteile des sogenannten jahrgangsübergreifenden Lernens. Vor sechs Jahren begann die Grundschule damit, jüngere und ältere Schüler in gemeinsamen Klassen zu unterrichten. Gefragt, welche Voraussetzungen dafür nötig waren, muss Hedenus nicht lange überlegen: „Willige Kollegen.“ Obwohl sie von dem Modell überzeugt ist, begrüßt sie es daher, dass Schulen nun nicht mehr gezwungen sind, das jahrgangsübergreifende Lernen zum 1. September einzuführen.
So verlangte es eigentlich das Schulgesetz. Vor vier Jahren hatte das Abgeordnetenhaus beschlossen, den Schulanfang grundlegend zu reformieren, um benachteiligte Kinder besser und früher zu fördern und in eine erfolgversprechende Schulkarriere zu schicken. Das Einschulungsalter wurde auf fünfeinhalb gedrückt, erste, zweite und dritte Klasse zu einer flexiblen Schuleingangsphase zusammengefasst und als Clou die Fusion der Klassen 1 und 2 zu jahrgangsgemischten Gruppen angeordnet.
Nachdem das Herzstück der Reform bereits einmal verschoben wurde, wackelt es nun erneut. Bildungssenator Jürgen Zöllner (SPD) hat am Mittwoch verkündet, die bis dato gültige Deadline 1. September aufzuheben und stattdessen mit den Schulen individuelle Termine auszuhandeln. Damit hat der Senator eine massenhafte Beugung des Schulgesetzes vermieden. Denn gut die Hälfte aller 400 Grundschulen praktiziert das jahrgangsübergreifende Lernen nicht und hatte angekündigt, es auch zum nächsten Schuljahr nicht einzuführen. Als Gründe nannten die Schulen räumliche und personelle Probleme.
Peter Heyer vom Grundschulverband hält die Bedenken für vorgeschoben. Seiner Ansicht nach richtet sich der Widerstand nicht so sehr gegen die Jahrgangsmischung, sondern generell gegen gemischte Lerngruppen. „Viele Lehrer haben Probleme mit dem Unterricht in heterogenen Lerngruppen und glauben, in Klassen eines Alterjahrgangs könnten sie sich daran vorbeimogeln.“ Daher kritisiert er die erneute Verschiebung: Wenn Berlin wirklich dem Frontalunterricht abschwören und selbstständiges Lernen in den Schulen etablieren wolle, müsse das jahrgangsübergreifende Lernen als Schlüsselelement eingeführt werden. Gleichwohl kann Heyer die Proteste der Lehrer verstehen – wurden ihnen doch einst versprochen, dass jeweils zwei von ihnen eine gemischte Klasse unterrichten.
Das ist nicht geschehen. Die Bildungsverwaltung hat nun lediglich versprochen, den Lehrerinnen für je vier Stunden pro Woche eine Erzieherin zur Seite zu stellen. Zusätzlich sollen alle Lehrer sich im Fach „Unterichten in gemischten Gruppen“ fortbilden – und zwar verpflichtend.
Nachdem sich die Lehrer der Adolf-Glaßbrenner-Grundschule in Kreuzberg zum jahrgangsübergreifenden Lehren entschlossen hatten, seien sie an andere Schulen ausgeschwärmt, berichtet Schulleiterin Rosa Strobl-Zinner. „Beim Hospitieren haben wir gesehen: Jahrgangsübergreifender Unterricht ist möglich.“ Seit einem Jahr werden Klasse 1 und 2 zusammen unterrichtet. Zwar würde auch sie sich mehr Kollegen und Räume wünschen: „Aber wir haben das gut hingekriegt.“
Voraussetzung sei vor allem, dass Lehrer bereit seien, ihren eigenen Stil komplett zu ändern und offenen statt Frontalunterricht zu machen, berichtet Ilona Hedenus. Sie sehe sich inzwischen mehr als Helferin und Beobachterin der Schüler, die Lernangebote macht. Gerade bereitet die Weddinger Lehrerin die Ausweitung des Jahrgangsunterrichts von Klasse 1 bis 3 vor. Auch an der Glaßbrenner-Schule werden entsprechende Vorbereitungen getroffen. Viel Überzeugungsarbeit musste Strobl-Zinner dafür nicht leisten: „Wir haben uns einfach drauf eingelassen.“