März der Schande

In Polen nutzten Kommunisten die 68er Studentenproteste zu antisemitischer Hetze. Die Journalistin Irena Holland war dabei

31. Januar 1968: Warschauer Studenten protestieren gegen die von der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) verfügte Absetzung der „Totenfeier“ („Dziady“) vom Spielplan des Nationaltheaters. 4. März 1968: Der Bildungsminister lässt die beiden Rädelsführer bei den Studentenprotesten, Adam Michnik und Henryk Szlajfer, relegieren. 9. März 1968: Mit dem Artikel in der Tageszeitung Zycie Warszawy beginnt die groß angelegte antisemitische Hetzkampagne der PVAP. Michnik und Szlajfer, die Kinder bekannter jüdischer Kommunisten, müssen als Sündenböcke herhalten. 29. März 1968: Der Rektor der Warschauer Universität wirft knapp 50 Studenten aus der Universität. 8.–9. Juli: Innenminister Mieczyslaw Moczar, der die antisemitische Hetzkampagne anzettelte, wird Vorsitzender des Zentralkomitees der PVAP. 21. August 1968: Die Warschauer-Pakt-Staaten marschieren in der Tschechoslowakei ein und schlagen den „Prager Frühling“ nieder. September 1968: Die Massenemigration der polnischen Juden beginnt. November 1968: Systemkritiker werden zu Haftstrafen verurteilt. Der Student Adam Michnik zu drei Jahren. GL

AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER

Für viele Intellektuelle in Polen ist es ein Schock: Über 80 Prozent der Jugendlichen kann den „März 1968“ historisch nicht zuordnen. Damals gab es eine antisemitische Hetzkampagne der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), Studentenproteste wurden brutal niedergeschlagen und rund 20.000 Juden flohen aus Polen. Das alles ist in Vergessenheit geraten, wie die linksliberale Gazeta Wyborcza zum 40. Jahrestag des polnischen „März der Schande 1968“ aufdeckte. Einige der jugendlichen Befragten etwa sind überzeugt, dass im März 1968 der Zweite Weltkrieg ausgebrochen sei oder Karol Wojtyla zum Papst gewählt wurde.

Irena Rybczynska-Holland kann sich über diese „blinden“ Intellektuellen nur wundern. Die heute 82-Jährige verlor 1968 ihren Chefredakteursposten bei der Nowa Wies, einer Zeitschrift für die „fortschrittliche Jugend“ auf dem Lande, weil sie den antisemitischen Kurs der Partei nicht mittragen wollte. „Die Antisemiten sind nicht weniger geworden“, empört sie sich heute. „Fast alle Prozesse gegen Antisemiten in Polen enden mit einem Freispruch. Professor Jerzy Robert Nowak zieht mit antisemitischen Vorträgen durch die Kirchen Polens und vergiftet die Seelen der Gläubigen. Jeder kann das sehen und hören. Niemand muss sich wundern.“

Die Hollands spielten in den 60er Jahren in Polen eine Schlüsselrolle. Das Ehepaar – beide Parteimitglieder und Journalisten – hält Kontakt zu ausländischen Journalisten. Ende 1961 gerät Henryk Holland in Spionageverdacht. Der Reformkommunist, der fast seine gesamte Familie im Holocaust verloren hat und im Nachkriegspolen eine gerechte Gesellschaft aufbauen will, zweifelt immer stärker am Realsozialismus. „Er hat dann einem französischen Korrespondenten von einem Toast des sowjetischen Regierungschefs Nikita Chruschtschow erzählt“, berichtet Irena Rybczynska-Holland.

„Zuvor hatte uns ein hohes Parteimitglied von diesem Toast auf den Tod des einst allmächtigen Innenministers Lawrentij Berija berichtet. Wir hatten nicht den Eindruck, dass dies geheim war.“ Doch als der Franzose einen Artikel darüber schreibt, macht Chruschtschow den polnischen Genossen die Hölle heiß. Polen sei undicht wie ein Sieb. Da die Wohnung der ausländischen Korrespondenten alle verwanzt sind, ist klar, wer die Information weitergegeben hat. Staats- und Parteichef Wladyslaw Gomulka will an Holland ein Exempel statuieren und lässt ihn verhaften. Bei der Revision seiner Wohnung stürzt sich dieser aus dem Fenster. Er stirbt sofort.

Der Mord an Holland oder sein Selbstmord wirken wie ein Fanal. In Gesellschaft und Partei beginnt es zu gären. Niemand traut Parteichef Gomulka, der 1956 nach Arbeiterunruhen in Poznan (Posen) enthusiastisch als Reformer von Partei und Staat begrüßt wurde, noch eine Änderung des Systems zu. Er verliert das Vertrauen der Intelligenz. In der Partei beginnt der Machtkampf um seine Nachfolge. Mieczyslaw Moczar gewinnt durch den „Fall Holland“ die Kontrolle über das Innenministerium. Er bereitet seinen Coup gegen Gomulka und die „Moskowiter“ vor – Kommunisten, die nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Roten Armee nach Polen kamen. Die Juden sollten als Sündenbock dienen.

Bereits Anfang der 60er Jahre richtet der ehemalige Geheimdienstchef eine „Abteilung für Ahnenforschung“ ein, die die „arische“ oder „nichtarische“ Herkunft der Parteikader, Offiziere und Wissenschaftler bis in die achte Generation hinein überprüfen soll. Nach dem Sechstagekrieg Israels 1967 hält Gomulka eine Hetzrede gegen Israel und die USA, warnt vor polnischen „Zionisten“ und der „fünften Kolonne im Lande“. Moczar scheint auf dieses Stichwort nur gewartet zu haben. Der Geheimdienst provoziert mit der Absetzung des Theaterstücks die Studentenunruhen in Warschau. Der Kampf gegen „Vaterlandsverräter und Zionisten“ beginnt.

„Mein zweiter Mann Stanislaw Brodzki und ich weigerten uns, diese antisemitische Politik der Partei mitzutragen und Hetzartikel gegen Israel und die Juden in unseren Zeitschriften zu publizieren“, erzählt Irena Rybczynska-Holland. „Wir verloren daraufhin beide unsere Arbeit und sollten emigrieren.“ Doch in dieser Zeit wird Tochter Agnieszka, die heute bekannte Regisseurin („Hitlerjunge Salomon“) in Prag verhaftet. „Sie unterstützte den Prager Frühling und hatte sich am Schmuggel westlicher Literatur beteiligt. Statt unsere Emigration vorzubereiten, dachte ich nur daran, wie ich Agnieszka in Prag helfen und sie aus dem Gefängnis holen konnte.“