: Leben auf Durchreise
Andreas Höfele erzählt von einer Suche nach einer neuen Existenz in den Siebzigerjahren – die Novelle „Abweg“
VON JOCHEN SCHIMMANG
Er setzte sich nach der Stadtseite in Bewegung. Das bedeutete, dass er auf das Auto verzichtete. Aha, dachte er, als hätte ein anderer ihm die Entscheidung abgenommen, das Auto bleibt also stehen.“
Als dies geschieht, auf der dritten Seite der Erzählung, hat Wieland, der Protagonist, immerhin schon sein Büro in der Universität in Brand gesteckt, an der er arbeitet, und das Gebäude dann in aller Ruhe verlassen. Ob dies seine eigene Entscheidung war oder ein anderer sie ihm abgenommen hat, lässt sich nicht sagen. Später, am Bahnhof, sieht er Löschzüge, dann Polizei und Krankenwagen vorbeirasen. „Es handelte sich wohl um ein größeres Feuer.“ Dann, als er in einem Bus stadtauswärts sitzt, sieht er „den orangeroten Schein“ des Feuers, das sich inzwischen zu einem Großbrand ausgeweitet hat.
Da ist Wieland schon auf dem Weg in seine neue Existenz. Er sucht die Adresse auf, die auf einem Zettel angegeben ist mit der Botschaft: „Sie sind mir aufgefallen. Wollen Sie sich verändern oder 2. Standbein aufbauen in Vertrieb/Außendienst?“ Schon am nächsten Tag heißt er Bartoschitz (er hätte sich auch die Namen Leiserung oder Gunkel aussuchen dürfen), sitzt in aller Frühe in einem Bus als Mitglied einer Drückerkolonne und wird in den nächsten Wochen zusammen mit Schneitzer, dessen Assistent er ist, irgendwelchen Hausfrauen irgendwelche Zeitschriftenabos andrehen.
Abends geht es zurück in die stinkigen Schlafsäle. Das dauert so lange, bis Schneitzer in einer Wohnung von einer jungen Frau erschossen wird, die Wieland von früher her kennt und die sich offensichtlich dem Terrorismus angeschlossen hat.
Denn wir befinden uns, wenn auch meist nur schemenhaft erkennbar, in den Siebzigerjahren, der bleiernen Zeit. Andreas Höfele erzählt parallel zur Geschichte von Wielands Ausbruch dessen Vorgeschichte: die zunehmende Entfernung des Assistenten Wieland von sich selbst, seiner Frau, seinen beiden Kindern und seinen Gewissheiten, sollte er je welche gehabt haben. Es beginnt mit Sehstörungen während des Seminars, setzt sich mit Herzrhythmusstörungen fort und führt zu immer wiederkehrenden Panikattacken, die Wieland selbst seine „Zustände“ nennt. Selbstverständlich versucht man, diesen Zuständen mit dem üblichen psychotherapeutischen Instrumentarium beizukommen. Ohne allzu großen Erfolg, muss man wohl sagen, denn wer seine Universität anzündet, darf nicht gerade als geheilt gelten.
Nun soll hier aber niemand auf eine falsche Fährte gelockt werden. Andreas Höfele hat weder eine Novelle über eine Persönlichkeitsdiffusion geschrieben, wie sie in ebenjenen Siebzigerjahren, von denen hier die Rede ist, durchaus beliebt waren, noch auch eine nachgereichte Paraphrase auf das gerade abgelaufene RAF-Gedenkjahr. Ein bisschen Lenz klingt zwar an (nicht der von Peter Schneider, sondern das Original von Büchner), aber so düster und teilweise auch muffig das Grundszenario erscheint, ist dies doch keineswegs eine ausweglose Geschichte. Ich habe sie jedenfalls nicht so gelesen, und das Schlussbild, das hier nicht verraten werden soll, deute ich eher als ein Bild vom Davongekommensein, vom Entrinnen, und zwar gleich einem doppelten. Sowohl seiner Familie als auch der Drückerkolonne ist Wieland am Ende entkommen, „und er spürte, wie eine unendliche Erleichterung ihn durchströmte“. Man muss sich also Wieland als glücklichen Menschen vorstellen.
Höfeles Held ist ein Verwandter von Handkes Josef Bloch, meinetwegen auch von Gregor Keuschnigg. Manche Arrangements könnten von Kafka stammen. Sein Blick dagegen hat jene scharfe und zugleich doch wohlwollende Genauigkeit, die wir von Wilhelm Genazino kennen.
Nun ist dies aber kein Buch, das Kafka, Handke und Genazino gemeinsam geschrieben haben, sondern sein Autor heißt Andreas Höfele („Die Heimsuchung des Assistenten Jung“, „Der Spitzel“). Der hat solche Referenzen gar nicht nötig, und sie waren auch als Referenzen nicht gedacht, sondern sind eher atmosphärische Assoziationen. Höfeles Novelle – hier wäre diese Gattungsbezeichnung einmal wirklich angebracht – ist ein überaus spannendes und sehr konzentriertes Prosastück. Es zeichnet sich vor allem durch eine fast traumwandlerische sprachliche Sicherheit aus. Es gibt hier kein falsches Bild, keinen schiefen Vergleich, kein Wort, das an falscher Stelle stünde oder zu viel wäre. Weder ist es eine realistische Erzählung im herkömmlichen Sinn noch eine verschwiemelte Traumprosa.
Obwohl Albtraumhaftes schon spürbar ist. Wer diese 110 Seiten gelesen hat, wird sich vielleicht als Erstes dankbar sagen, dass nicht nur Höfeles Held seiner Drückerkolonne und seiner Familie glücklich entronnen ist, sondern auch wir der Zeit entkommen sind, von der hier die Rede ist.
Andreas Höfele: „Abweg“. weissbooks, Frankfurt am Main 2008, 110 Seiten, 16 Euro