: Utopische Augenblicke
Eine Ampel fällt aus
Der Mensch weiß wenig über seinesgleichen. Man kauft beim Artgenossen, schaut ihn im Fernsehen an und hat sich an ihn gewöhnt. Also beobachtet der Mensch Eisbärenkinder und schreitet unbekümmert einher. Umso schöner, wenn einem Gelegenheit gegeben wird, sich mit der geistigen Verfassung der Mitmenschen zu beschäftigen.
Erst kürzlich wieder bot sich eine solche Chance, als es Gott gefiel, die Ampeln an der Kreuzung vom Mehringdamm und Gneisenaustraße ausfallen zu lassen. Polizei war nicht zu sehen, stattdessen Hunderte von Autos und einige wenige Busse. Alle wollten, wie es ihnen gegeben ist, die Kreuzung queren, doch der Ausfall der Ampeln zwang sie, sich selbst zu organisieren. Umsichtig fuhren alle dorthin, wo die Ampel sie normalerweise zum Halten zwingt, schauten nach rechts, nach links und geradeaus und fuhren, wenn es machbar schien, an. Beinahe war es, als sei Selbstorganisation keine Utopie und man wollte der Annahme der idealistischen Philosophie zustimmen, der Mensch berge ein Vernunftwesen in sich.
Doch dieser Augenblick währte nur kurz, denn dann entdeckte der Auto fahrenden Homo sapiens sapiens, dass ihm eine Hupe gegeben ward, mit der er sein Missfallen kundtun durfte. Andere wiederum glaubten, der Fahrtweg werde, die falsche Steigerung sei hier bitte nachgesehen, „freier“, wenn sie sich nur nach vorn drängelten und schlängelten. Selbstredend dachten das die Autofahrer an allen vier Haltepunkten gleichzeitig und ein wildes Chaos entstand. Ich allerdings, die Kreuzung überschreitend, kam noch mal mit dem Leben davon und zu der Erkenntnis, dass der Mensch noch nicht reif ist fürs Auto.
JÖRG SUNDERMEIER