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Archiv-Artikel

streikwege Von Neukölln in die Kochstraße

Ich bin Zufußgeherin – Streik hin oder her. Ich gehe zu Fuß zur Arbeit, bringe mein Kind zu Fuß zur Schule, gehe, wenn ich frei habe, gerne lange durch die Stadt und kneife auch bei Regen nicht („Wir sind ja schließlich nicht aus Zucker!“, lautete der dazugehörende Spruch meiner Familie, lauter überzeugter Holland-Urlauber).

Das Wunderbare am Zufußgehen ist, dass man dabei auf beinahe meditative Weise für sich sein kann: Man wird von anderen Menschen kaum wahrgenommen, da man weder für Rad- noch für Autofahrer eine im Auge zu behaltende Gefährdung darstellt. Die ganze Aufmerksamkeit dieser Verkehrsteilnehmer richtet sich mehr auf die Straßen als auf die Fußgängerwege. Dieses Fürsichsein als Fußgänger wird noch verstärkt durch das Gehen selber: Die Regelmäßigkeit der Bewegung, der Atem, die Zeit, die man hat, Dinge zu betrachten oder zu bedenken. Man kann durch die Stadt wandeln wie unter einer Tarnkappe – sehend, aber für andere unsichtbar.

Man konnte – bis zu diesem Streik. Plötzlich fühlt man sich auf dem Bürgersteig wie auf der Trainingsbahn der Eisschnelläuferinnen in Hohenschönhausen. Das liegt zum einen an der höheren Zahl der Zufußgeher. Sie zwingen zu Überholmanövern, zu Geschwindigkeitsanpassungen, um Knotenpunkte zu überwinden. Entgegenkommende müssen vorbeigelassen oder ihnen muss ausgewichen werden. Kurz: Man muss sehen und man muss gesehen werden.

Letzteres ist überdies wegen der gestiegenen Zahl von RadfahrerInnen wichtig, die sich erheblich stärker als die der Fußgänger erhöht hat. Überfüllte Radwege und ungeübte Fahrradschleicher zwingen Rase-Profis zu riskanten Ausweichmanövern über die Gehwege. Fußgänger werden als Hindernisse rasant umfahren oder zur Seite geklingelt – sie sind Störer beim täglichen Versuch mancher Radfahrer, ihren eigenen Geschwindigkeitsrekord immer weiter zu verbessern, der Rücksichtnahme auf andere ebenso ausschließt, wie sie eben im Hochleistungssport verpönt ist.

Es ist also vorbei mit dem Wandeln unter der Tarnkappe, mit dem geruhsamen meditativen Fürsichsein. Vorbei mit der Ruhe der gleichmäßigen Bewegung, des regelmäßigen Atems: Der Streik verwandelt die Fußgängerin von einer unsichtbaren, ihrem eigenen Rhythmus folgenden Randfigur in ein hektisches Mitglied der Großstadtverkehrsgemeinschaft. Sie wird gezwungen, ihren Außenseiterposten zu verlassen und sich zu integrieren: Es ist eine schmerzhafte Zwangsintegration.

Ich freue mich deshalb auf das Ende des Streiks, auch wenn dann das Lärmen der Busse wieder durch die derzeit so schön stille Stadt dröhnt. Ich freue mich schon darauf, wieder unsichtbar zu sein. ALKE WIERTH