: „Ich kann keinen Linksruck erkennen“
Sonntag. 20:15 Uhr. „Tatort“. „Kommissare sind in erster Linie edel, hilfreich und gut“, sagt Martin Wuttke. Er ist jetzt selbst einer. Und edel, hilfreich, gut? Der Schauspieler über sein neues Medium Fernsehen, das Funktionärswesen der 68er. Und warum gerade niemand in der Gesellschaft das Stoppschild hochhält
MARTIN WUTTKEGeboren: 8. Februar 1962 in Gelsenkirchen Privat: Verheiratet, drei Kinder, lebt in Berlin Beruf: Schauspieler und Regisseur Karriere: Seit 1994 am „Berliner Ensemble“ (BE), wohin ihn Intendant Heiner Müller rief. Nach dessen Tod 1995 übernahm Wuttke die Intendanz – für genau ein Jahr Bekannteste Theaterrolle: Hauptrolle in Bertolt Brechts „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ Aktuelles Projekt: Seine eigene Inszenierung FAUST – Solo mit Chor (Premiere am 27. März 2008, im Foyer des BE) und die Frage „Wer sind die Frauen in Goethes Faust?“ „Tatort“-Einstand: Als Kommissar Andreas Keppler wird Wuttke an der Seite von Simone Tomalla am 25. Mai zum ersten Mal in Leipzig ermitteln.
Zum taz-Gespräch traf sich Susanne Lang mit Martin Wuttke im Proberaum des Berliner Ensemble.
INTERVIEW SUSANNE LANG
taz: Herr Wuttke, was hätten Heiner Müller oder Einar Schleef zu Ihrem neuen Engagement als Leipziger „Tatort“-Kommissar gesagt?
Martin Wuttke: Herzlichen Glückwunsch!
Eine Rolle im populären Medium Fernsehen wäre kein Tabu gewesen?
Nein, zumindest kann ich mir das nicht vorstellen. Ganz abgesehen davon hätten sie keinen Einfluss auf meine Wahl von Rollen gehabt. Einen Regisseur wie Schleef hätte weniger das Medium gestört als die Tatsache, dass es mich aus seinem Arbeitsbereich entfernt hätte.
Auf eine Art erfüllt der „Tatort“ im Fernsehen ja die Rolle des Berliner Ensembles in der Theaterlandschaft: sozialkritisch, links, politisch.
Sagen wir so: Man muss sich immer durch den Speck durchschneiden, in dem man gerade steckt. Fernsehen ist ein anderer Arbeitsbereich mit anderen Bedingungen, aber gerade der „Tatort“ erreicht ein Massenpublikum, dementsprechend sind die Widerstände gegen bestimmte Stoffe noch massiver als im Theater.
Welche wären das?
Es geht immer um die Anderen. Immer wenn es etwa um Drogen geht, nimmt das Fernsehen eine bestimmte Perspektive ein: Man redet von Leuten, die man nicht kennt, blickt auf sie herab. Dabei nehmen gerade im Fernseh- und Filmbereich eine Menge Leute selbst Drogen. Das weiß auch jeder. In den Filmen, die sie produzieren, tauchen aber immer nur Klischee-Drogenabhängige auf: Fixer aus den unteren Schichten. Jedenfalls immer die Anderen.
Weshalb wollen Sie unter diesen Umständen in Zukunft als Kommissar ermitteln?
Mich hat das Serielle gereizt. Anders als in einem Spielfilm geht es bei der Serie nicht darum, eine Figur über eine geschlossene Geschichte zu erzählen. Dieser Kommissar wird immer wieder in ganz verschiedenen Situationen auftauchen, in denen man ihn vielleicht erst kennenlernt.
Sie kennen ihn selbst noch nicht?
Nein, das empfinde ich ja gerade als Chance: eine Figur über mehrere Folgen und eine gewisse Zeitspanne zu verfolgen. Leider ist dieser Zugang zur Rolle eine Arbeitsweise, die schwer kompatibel ist mit dem Fernsehen, wo mir zunächst andere Ansätze begegnen. Wir werden sehen, ob wir sie synchronisieren können. „Tatort“-Kommissare sind in erster Linie edel, hilfreich und gut. Egal, ob sie einen Arm haben oder stottern. Ein negativer Held bleibt in jedem Fall undenkbar.
In Ihrer Zeit an der Volksbühne unter Frank Castorf haben Sie in vielen medienkritischen Inszenierungen mitgewirkt, die vor allem das voyeuristische Big-Brother-Wesen im Blick hatten. Und Sie wirken immer noch sehr kritisch dem Medium gegenüber.
Ich glaube, da muss man unterscheiden. Wenn in diesen Aufführungen Videotechnik benutzt wurde, um das Publikum den Blick in intime Räume auf der Bühne zu ermöglichen, handelte es sich um eine Art Experiment: Wie verhalten sich Menschen, wenn Kameras sie angucken oder wenn sie den Zugang zu verschlossenen Räumen freigeben? Das kann man als Medienkritik lesen, muss man aber nicht.
Ist dieser Blick noch ein Thema für Sie?
Ja, aber seine Dimension hat sich verändert. An einen bestimmten Grad von Voyeurismus hat man sich mittlerweile gewöhnt. Nun rücken die Kameras näher. Nehmen Sie nur diese Dschungel-Camp-Shows. Die Kameras rücken näher und näher – bis sie irgendwann endoskopisch sein werden und den Speichelfluss bei irgendeiner Reizung dokumentieren. Aus dem soziologischen Experiment ist ein biologisches geworden.
Wie reagiert eigentlich das Theater darauf? Mit einer Bertolt Brecht’schen Distanziertheit?
Ganz ähnlich eigentlich. Beim vorletzten Theatertreffen war das sehr auffällig. Günther Rühle, mein ehemaliger Intendant, brachte es dort bei einem Gespräch auf den Punkt: Es gab zwei große, widerstreitende Pole im Theater, Brecht und Beckett. Der Brecht’sche geht mittlerweile gegen null. Man rutscht lieber nahe an den Menschen vor dem offenen Kühlschrank.
Als den gefüllten Kühlschrank an sich zu fokussieren?
So ungefähr, ja. Bei jenem Theatertreffen gab es zahlreiche Tschechow-Inszenierungen, die insofern bemerkenswert waren, als sie keinen gesellschaftlichen Zusammenhang mehr erkennen ließen, in dem Menschen agieren. Die Bedingungen, unter denen etwa die „Drei Schwestern“ handeln, blieben außen vor. Warum sind da Soldaten, warum ziehen sie weiter, in welcher Zeit bewegen sie sich – all das rückt in den Hintergrund. Im Fokus stehen nur noch die Menschen, die sich in ihrem Menschsein äußern. Das kann man jetzt als Mangel sehen, aber ich will es gar nicht bewerten.
Vielleicht wollen Sie es ja erklären?
Offenbar ist das Bedürfnis sehr groß, sich im Theater zu erzählen, dass wir Menschen sind. Ein Selbstvergewisserungsprozess. Die soziologische Einordnung oder die gesellschaftlichen Zusammenhänge führen zu keiner Orientierung mehr. Wenn die „Drei Schwestern“ von ihrer Langeweile reden und der Sehnsucht nach Moskau – Moskau als Chiffre für einen Sehnsuchtsort, an den man sich wünscht –, teilen sie nur noch ihre Langeweile mit den Zuschauern. Eine spezielle Spielart des Humanismus. Danach kümmert man sich wieder um die Biologie.
Da scheint der „Linksruck“ der Gesellschaft, von dem alle reden, ja genau zum richtigen Zeitpunkt zu kommen.
Den kann ich ehrlich gesagt nirgendwo wahrnehmen, schon gar nicht empfinden. Für mich existiert er nur auf dem Papier, eine Art Pappe, die einige plötzlich hochhalten. Woran man dieses gesellschaftliche Projekt wirklich festmachen soll, kann ich nicht orten. Reine Polemik, politische Grabenkämpfe.
Vielleicht ist die Zeit der linken Projekte und Entwürfe einfach vorbei?
Heiner Müller hat einmal hier im Berliner Ensemble ein Mai-Gedicht von Brecht gelesen und sagte dazu nur: Das klingt jetzt alles sehr, sehr lächerlich, aber diese Utopien werden wiederauftauchen. Ich glaube, er hatte Recht. Die Sehnsucht nach diesem Land, von dem in dem Gedicht geredet wird, ist nach wie vor da. Man kann die Position vertreten, dass das Projekt gescheitert ist. Na gut. Aber die Sehnsucht nach einer solchen Utopie wird an einem anderen Horizont wiederauftauchen.
Wäre das Theater ein denkbarer Horizont?
Das wäre schön, ist aber eher unwahrscheinlich. Momentan gibt es niemanden in dieser Gesellschaft, der aufstehen und ein Stoppschild hochhalten könnte. Das Theater selbst ist zu stark in den Gesellschaftsentwurf eingearbeitet. Was passiert denn, wenn sich Herr Peymann zu politischen Vorgängen äußert? Ganz egal, welche Position er vertritt, ihr Stellenwert lässt sich nicht vergrößern. Selbst wenn ein ganzes Theater sich gemeinsam für etwas stark machen würde, hieße es doch nur: die Theaterleute, die brauchen PR.
Vielleicht will diese demokratische und friedliche und saturierte Gesellschaft gar keinen Aufbruch?
Dieses Land ist extrem sediert. Da wirken die unterschiedlichsten Drogen zusammen: Angst, eine Form von mittlerem Wohlstand und betäubendem Luxus, die sich in Dumpfheit niederschlagen. Selbst dieser hitzige Fleiß, jener Arbeitseifer, der ein Land aufbauen wollte, ist völlig verschwunden. Wo sollte da Raum für ein Projekt sein.
Fehlt Ihnen persönlich eines? Wäre Ihnen danach, dass Ihr Theater kollektiv aufsteht und gehört wird?
Das ist schwierig. Ich würde lieber mit Rainald Goetz sagen: Don’t cry, work. Mich interessiert das Spezielle einfach mehr als der große Entwurf, dazu wäre ich auch nicht in der Lage.
Vielleicht hat die 68er Bewegung in der Hinsicht ja auch gesiegt – jetzt kann es um das Spezielle gehen?
Von 68 habe ich als Kind nur die Schatten miterlebt. Woran ich mich aber gut erinnere, ist die dauernde Auseinandersetzung mit dem Thema Autorität. Meine Arbeitgeber waren ja größtenteils 68er. Und genau diese Leute hatten ein explizites Autoritätsproblem. Am Theater, das ja in Westdeutschland ein Forum dieser Bewegung war, wurde eine bestimmte Form des Diskurses gepflegt. Wenn ich erkennen ließ, dass mich nun nicht interessiere, ob in Don Carlos die eine oder andere Figur wie Filbinger ist, war das definitiv der falsche Diskurs. Dabei wollte ich nur wissen, warum dieser Satz nun gestrichen wurde.
Sie waren also mit Autoritäten konfrontiert, die den Autoritäten den Kampf angesagt hatten?
Jeder, der eine andere Sichtweise einnahm und zum Teil immer noch einnimmt, gilt als Dissident oder gar Sektierer. Zudem setzt sich auch am Theater unter zunehmendem ökonomischem Druck das Funktionärswesen durch. Vielleicht sollte man all die Intendanzen einfach mal schließen, am besten zunageln.
Die autoritären 68er könnten jetzt sagen: Na, dann nagelt sie doch am besten zu! Erkämpft es euch, haben wir doch auch gemacht.
Vielleicht liegt darin das größte Missverständnis des legendären Marschs durch die Institutionen. Diese Plätze und Posten blieben ja unangetastet. Egal wer aber auf den Stühlen sitzt, er findet sich dort in der Rolle des Funktionärs wieder. Das ist tatsächlich tragisch.
Haben Sie deshalb bereits nach einem Jahr die Leitung des Berliner Ensemble 1996 wieder abgegeben?
Ja. Ich war nur mit Dingen beschäftigt, die im Grunde völlig unerheblich sind für das, was Theater eigentlich machen sollte. Nichts von dem, was oben in den Intendanzen besprochen wird, hat irgendeine Relevanz für das Bühnengeschehen. Erschwerend kam hinzu, dass ich als relativ junger Mann mit 35 an einem Theater wie dem BE Intendant wurde. Das war ein Sakrileg. Aus der 68er-Generation gab es absolut keine Solidarität.
Obwohl Sie genau die auf der Bühne propagiert haben. Ist das denn dialektisch oder eher paradox?
Wenn die Utopien, die übergeordneten Projekte realisiert werden sollen, geraten sie aus dem Blickfeld und es tauchen offenbar die alten Herrschaftsformen und Machtverhältnisse umgehend wieder auf. Heiner Müller hat das nach dem Mauerfall auf eine Formel gebracht: Aus dem kommunistischem „Kein oder alles“ wird dann ganz schnell „Für alle reicht es nicht!“. Das Problem der Selektion tritt in den Vordergrund. Schluss mit Solidarität.
Wieso sind Sie denn mit dieser Erfahrung am Berliner Ensemble geblieben?
Abgesehen von dem Problem, Geld verdienen zu müssen, möchte ich da doch eines festhalten: Der Aufbruch damals durch die 68er-Bewegung war doch enorm. Ich kannte das Klima in der Gesellschaft und in den Familien, wie sie es erlebt haben müssen, ja gar nicht mehr. Meine beiden älteren Brüder sind aber noch so aufgewachsen. Sie haben 68 als großen Befreiungsakt erfahren und sich mit meinem Vater auch immer sehr gestritten. Ich dachte da nur: Was wollt ihr denn von dem alten Mann, lasst ihn doch in Ruhe.
Worum ging es Ihren Brüdern?
Sie träumten einen anderen Traum und haben ja auch versucht mich zu missionieren, mit Musik, mit einer bestimmten Form der Kleidung, mit dem Gedanken, ein kreatives Leben zu führen. Heute dominiert diese Lebensweise, die meisten versuchen sich in kreativen Projekten. Unvorstellbar in der damaligen Gesellschaftsstruktur des Ruhrgebiets.
Sie haben selbst drei Söhne, inwiefern wachsen die noch mal anders auf als Ihre Nach-68-Generation?
Sehr anders. Einerseits haben sie ein ganz anderes Selbstbewusstsein, als ich es in dem Alter jemals hatte, andererseits erleben sie größere Widersprüche. In den Familien sind Jugendliche wirklich aufgehoben, man redet miteinander und passt aufeinander auf. Dann treten sie aber auf die Straße, in den öffentlichen Raum, der sehr brutal sein kann. Neulich habe ich eine Sendung über jugendliche Dauerstraftäter gesehen, die sich genau in diesem Dilemma befinden. Womit ich aber nun nicht sagen möchte, dass meine Söhne kriminell sind.
Aber auf eine Art überbehütet?
Ich weiß nicht, vielleicht. Jedenfalls stelle ich mir den Riss zwischen Familienwelt und dem Draußen enorm vor. Jeder ist sein eigener Verräter. Die soziale Kälte ist größer.
Was thematisch wieder zu Ihrer Rolle im „Tatort“ zurückführt. Gibt es eigentlich einen Grund, warum Sie im Osten ermitteln werden?
Nein, das ist Zufall. Ich hätte genauso gerne im Westen ermittelt. Während der jahrelangen Arbeit am Theater habe ich mich finanziell nicht gerade saniert.
Glauben Sie, die 68er am Theater hatten irgendwann ein ähnliches unideologisches Erwachen: Ich muss arbeiten, um mich zu ernähren?
Ich glaube ja. Jeder kann sich sehr lange vormachen, wie unabhängig er sei. Habe ich ja auch getan. Bis Mitte dreißig war ich in einer unglaublichen Blindheit der Überzeugung, dass ich das alles nur vorübergehend mache. Schauspielschule, Engagements, aber eigentlich will ich Kunst studieren – nur nicht festlegen lassen.
Wann kam der Punkt des Festlegens?
Na ja, hier im Berliner Ensemble, als ich plötzlich als junger Mann als Intendant rumsaß, da dachte ich: Jetzt kannst du dir das Provisorium von der Backe putzen.