: Tote bei kurdischen Neujahrsfeiern
Hunderte Verletzte bei Protesten im Südosten der Türkei. Mehrere Vertreter des laizistischen Lagers festgenommen
ISTANBUL taz ■ „Die Spannungen steigen, und kein Ende ist in Sicht.“ So fasst die Turkish Daily News vom Montag die Ostertage in der Türkei zusammen. Der Konflikt mit der kurdischen Minderheit eskaliert, im Streit zwischen der regierenden AKP und der kemalistischen Bürokratie wird mit immer härteren Bandagen gekämpft, und die türkische Wirtschaft ist dabei, in eine schwere Krise zu geraten.
Die am letzten Freitag friedlich gestarteten Feiern zum kurdischen Frühjahrsfest Newroz schlugen am Wochenende in etlichen Städten im kurdischen Südosten in blutige Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei um. Dabei starben zwei Menschen, Hunderte wurden verletzt und hunderte Protestierer festgenommen. Obwohl die kurdische Oppositionspartei DTP mit dem Innenministerium eine Vereinbarung getroffen hatte, die einen friedlichen Ablauf der Feiern gewährleisten sollte, hielt das Deeskalationsprogramm nur einen Tag. Nachdem in Diyarbakir alles friedlich geblieben war, explodierte einen Tag später in Van, Hakkari und Bitlis die Gewalt.
Angeblich, weil die Menge Slogans zur Unterstützung der PKK und Abdullah Öcalans rief, ging die Polizei in Van gewaltsam gegen die Demonstranten vor. Die Szenen wirkten wie eine Initialzündung, plötzlich krachte es in allen kurdischen Städten von Bitlis bis Urfa. Während sich bei den Demonstranten die Wut über Militäreinsätze im Nordirak und die Dauerpräsenz des Militärs in der Region entlud, zeigte die Polizei erneut, dass sie von Dialog wenig hält.
Mehr noch als die Bilder von Straßenschlachten erregten die türkische Öffentlichkeit mehrere Festnahmen teils sehr prominenter Sprecher des laizistischen Lagers. Bei einer Razzia um 4 Uhr morgens wurden 12 Leute verhaftet, darunter der Doyen des türkischen Journalismus, der 83-jährige Ilhan Selcuk.
Vor allem die Verhaftung von Selcuks, jahrzehntelang Chefredakteur der links-kemalistischen Tageszeitung Cumhurriyet, sorgte für Empörung. Die Verhafteten – Ilhan Selcuk ist wieder auf freiem Fuß – werden beschuldigt, sie seien Mitglieder der rechtsradikalen, ultranationalistischen Putschtruppe „Ergenekon“. Dieser Geheimorganisation wird vorgeworfen, die Morde an Hrant Dink und dem Priester Andreas Santoro inszeniert und durch weitere gezielte Attentate versucht zu haben, einen Militärputsch herbeizubomben.
Diese Verhaftungen werteten die meisten Zeitungen allerdings eher als Revanche für das Verbotsverfahren gegen die AKP. Der Parlamentskorrespondent der linksliberalen Radikal, Murat Yetkin, befürchtet, dass nach diesem Schlagabtausch das Verfassungsgericht wohl in den kommenden Tagen offiziell ein Verbotsverfahren gegen die Regierungspartei eröffnen wird.
JÜRGEN GOTTSCHLICH