piwik no script img

Es siegt die Stabilität

Bei den Turn-Europameisterschaften triumphiert, wer „durchturnt“. Doch der Deutsch-Usbekin Oksana Tschussowitina gelingt das Kunststück, beim Sprung trotz eines Sturzes Gold zu gewinnen

AUS CLERMONT-FERRAND SANDRA SCHMIDT

Durchturnen ist ein wichtiges Wort im Turnsport, vielleicht das wichtigste überhaupt. Durchturnen bedeutet, dass es der Turnerin gelingt, ihre vorbereitete Übung ohne Sturz vom Gerät im Wettkampf zu präsentieren. Nicht durchturnen hingegen bedeutet mindestens einen Abzug von 0,8 Punkten in der B-Note, denn damit wird der Sturz bestraft. Nicht selten bedeutet es sehr viel größere Einbußen, denn mit dem Sturz geht meist auch die Aberkennung des Elements einher, was sich in der A-Note, die den Schwierigkeitsgrad der Übung anzeigt, ausdrückt. Durchturnen könnte man also mit Stabilität übersetzen.

Bei den Europameisterschaften der Frauen im französischen Clermont-Ferrand, bei der am Samstag Rumänien souverän den Teamtitel gewann, siegte die Stabilität. Alle rumänischen Starterinnen turnten durch, die zweit- und drittplatzierten Russinnen und Französinnen verbuchten je einen Sturz. Die Titelverteidigerinnen aus Italien landeten nach vier Stürzen mit fast sechs Punkten Rückstand nur auf Rang vier.

Doch das Durchturnen war im Teamwettbewerb nicht immer so wichtig. Früher gab es die sogenannte Streichwertung, das heißt, die niedrigste Wertung im damals größeren Team zählte nicht für das Teamergebnis. Der Umstand, dass heutzutage die Stabilität alles entscheidend ist, ist dem 5-3-3-Modus zu verdanken, der ursprünglich eingeführt worden war, um die Wettbewerbe kürzer und spannender, also fernsehkompatibler, zu gestalten. Das Team besteht aus fünf Turnerinnen, an jedem Gerät starten drei von ihnen, und alle drei Wertungen gehen in das Teamergebnis ein. „Der Druck auf die Athleten bei diesem Modus im Mannschaftsfinale ist viel größer, da muss man Athleten haben, die keine Angst haben zu versagen“, urteilt die deutsche Cheftrainerin Ursula Koch und denkt weiter: „Ich finde das gut so, die Turnerin müssen lernen zu einem bestimmten Zeitpunkt ihre beste Leistung abzurufen. Wenn sie im Einzel Olympiasieger werden wollen, müssen sie ja auch alle Geräte durchturnen.“

An Spannung war das Finale am Samstag kaum zu überbieten: Vor dem letzten der vier Geräte war sowohl die Entscheidung um die Medaillen noch offen als auch jene um die Plätze vier bis sieben. Jede Übung zählt, ein einziger Sturz kann die Medaille oder den angestrebten Rang kosten. So erging es auch den deutschen Turnerinnen. Nach der Qualifikation hatte Koch noch den sechsten Rang zum Ziel für das Teamfinale erklärt: „Wenn wir in Peking ins Teamfinale der besten acht wollen, dann müssen wir in Europa mindestens Sechste sein“, erläuterte sie ihre Vorgabe. Dann verletzte sich die Chemnitzerin Joeline Möbius beim Balkentraining am Fuß. Jenny Brunner und Oksana Tschussowitina, die eigentlich für ihre Gerätfinaleinsätze am Sonntag geschont werden sollten, mussten einspringen. Koch entschied sich für das Wagnis. Doch Jenny Brunner patzte bei ihrer Abgangsreihe am Boden, Marie-Sophie Hindermann stieg ab, als sie gegen Ende ihrer Barrenübung die Kraft verließ, und Katja Abel setzte ihren Jurtschenko mit anderthalb Drehungen am Sprungtisch aufs Hinterteil. Gleich fünfmal hieß es für die deutschen Turnerinnen: nicht durchgeturnt. „Die Fehler wären vermeidbar gewesen, wenn wir einfacher geturnt hätten. Aber wir haben nicht reduziert, weil wir die Übungen für Olympia testen wollten“, rechtfertigt sich Koch.

Am Sonntagnachmittag turnte die 32-jährige Oksana Tschussowitina am Sprung nicht ganz durch und holte doch eine Goldmedaille für den Deutschen Turnerbund: Sie stürzte beim zweiten Sprung, einem Tsukahara mit anderthalb Schrauben; ihr erster Sprung, ein Salto vorwärts gestreckt mit anderthalb Schrauben, hingegen zeigte sie so souverän, dass sie im Mittel beider Sprünge noch vor allen anderen lag.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen