: Eine Frage von Bruch und Erbe
Eine international besetzte Tagung in Luxemburg diskutierte den Mai 1968 in Frankreich und die Niederschlagung des „Prager Frühlings“
An Büchern und Tagungen über „68“ herrscht momentan national wie international kein Mangel. Aber was das „Institut Pierre Werner“ in Luxemburg jetzt zustande brachte, ist höchst beachtlich. Ein knappes Dutzend Intellektuelle aus Frankreich, Luxemburg, Deutschland und Tschechien traf sich, um zweierlei zu diskutieren: das Pariser Volksfest im Mai 1968 und die Invasion der Truppen des Warschauer Pakts am 21. August 1968, mit dem das weitestreichende kommunistische Reformprojekt abgewürgt wurde. Konträrer kann man das Thema „68“ nicht angehen. Mindestens so schlimm wie die Folgen der militärischen Invasion waren die zwanzig Jahre der „Normalisierung“ danach.
Das belegen die Biografien tschechischer Teilnehmer. Petr Uhl, heute im Verwaltungsrat des tschechischen Fernsehens, saß von 1969 bis 1973 im Gefängnis und gehörte 1976/77 zu den Mitbegründern der „Charta 77“, was ihn 1979 für weitere fünf Jahre hinter Gitter brachte. Die Historikerin Jiřina Šiklová wurde 1968 aus dem Universitätsdienst entlassen und schlug sich jahrelang als Putzfrau und Sozialarbeiterin durch. Noch 1981 wurde sie zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt, weil sie sich am Vertrieb „illegaler“ Schriften beteiligt hatte. Verglichen damit ist das larmoyante Getue Götz Alys, der wegen seines hirnlosen Engagements für die maoistische Bauernphilosophie nicht Professor wurde, allenfalls peinlich.
Die spannendsten Kontroversen entfachten sich jedoch nicht zwischen westlichen und östlichen Teilnehmern der Tagung, sondern zwischen den tschechischen Zeitzeugen des 21. August 68 und den Opfern der nachfolgenden Repressionen auf der einen und jungen tschechischen Sozialwissenschaftlern auf der anderen Seite. Der Politologe Petr Drulák und der Historiker Jaroslav Cuhra mochten zwischen dem Altstalinisten Antonín Novotný und dem Reformer Alexander Dubček keinen Unterschied sehen. Für die beiden jungen Wissenschaftler war der Kommunismus Moskauer Prägung vollständig resistent gegen substanzielle Reformen und der „Prager Frühling“ lediglich eine Illusion der Akteure wie des westlichen Publikums. In den Augen der spätgeborenen Wissenschaftler diskreditierte sich der Reformversuch in Prag schon allein deshalb, weil die Bezeichnung, unter der er lief – „Prager Frühling“ –, von Roger Garaudy, dem damaligen Chefintellektuellen der französischen KP stammt. Die KPF war zwar die fürchterlichste stalinistische Partei im Westen, aber in den Jahren rund um 1968 gehörte Garaudy zweitweise zu jenen, die zum Bruch mit dem Spätstalinismus bereit waren. Auch nach der sanften Revolution 1989 in Tschechien blieb der Bezug auf 1968 für jene, die den demokratischen Umbau des Landes wollten, eine Frage von Bruch und Erbe, wie die Politikwissenschaftlerin Sandrine Devaux zeigte.
Der angeblich prinzipiellen Reformunfähigkeit der tschechischen KP widersprachen Jiřina Šiklová und Petr Uhl, die nicht nur auf die Abschaffung der Zensur durch die Reformkommunisten hinwiesen, sondern auch auf zaghafte Schritte zur Demokratisierung und Liberalisierung. Zwar kamen die Reformen von der Regierung, also von oben, aber Uhl sah den gemeinsamen Nenner mit der Protestbewegung im Westen in der auch in der Tschechoslowakei zu beobachtenden antiautoritären Grundierung des Protests. Darin wusste sich Uhl nicht nur von Rudi Dutschke, den er in Ostberlin traf, bestätigt, sondern auch von Jean-Pierre Duteuil, der 1968 der libertär-anarchistischen Fraktion des „Mouvement du 22 Mars“ in Nanterre, wo die Revolte begann, angehörte.
Zwei französische Referentinnen (Danielle Tartakowsky und Frédérique Matonti) betonten dagegen an Wertorientierungen und Aktionsformen die Unterschiede zwischen den Protestbewegungen im Westen und dem „Prager Frühling“.
Dass sich in West- wie in Osteuropa schon vor 1968 auch gemeinsame politische Vorstellungen eines Sozialismus jenseits des betonierten Marxismus-Leninismus herausbildeten, betonten Franzosen wie Tschechen. Das bestätigte auch die jetzige Botschafterin Tschechiens in Luxemburg – Kateřina Lukešová –, die 1980/81 an der Sorbonne studierte.
Bereits in den 60er-Jahren gab es einen intensiven Austausch zwischen linken Intellektuellen in Ost und West. Eine Schlüsselrolle spielte dabei die jugoslawische Praxisgruppe und deren Sommeruniversität auf der Insel Korčula, auf der sich Oppositionelle aus ganz Europa trafen. Petr Uhl wie der aus Polen stammende Georges Mink berichteten, dass sie 1968 zu jeder Zeit genau wussten, was sich in der westlichen Protestbewegung abspielte. Der Eiserne Vorhang hatte Löcher. RUDOLF WALTHER