Verloren im Änderhaus

Erst fehlen die Straßenlaternen, dann verschwinden die Menschen: Ricarda Junges Roman „Eine schöne Geschichte“ ist schön durchgeknallte Großstadt-Sciencefiction

Wer hübsch erzählte Romane von jungen Autorinnen mag, wird Ricarda Junges „Schöne Geschichte“ nicht lieben. Nichts an der Story, die auf 256 Seiten kreuz und quer durch ein endzeitzerstörtes Berlin mäandert, ist im klassischen Sinne schön. Nicht die kaputte Stadt, aus der auf mysteriöse Weise immer wieder Tiere, Dinge und Personen verschwinden. Nicht die von einer tödlichen Lungenkrankheit befallene Protagonistin Marie, die tagelang mit zu Klumpen angeschwollenen Beinen im WG-Zimmer liegt oder sich vor Schwäche im Hörsaal in die Hose pinkelt. Nicht Maries smarter Freund Peter, der zwischen aufopfernder Krankenbetreuung und herrischer Ungeduld schwankt. Und schon gar nicht die psychotische Colina, die sich seit ihrer Ankunft in der Stadt Marie an die Fersen geheftet hat und plötzlich aus dem Studentenwohnheim verschwindet.

„Eine schöne Geschichte“ ist ein ziemlich düsterer Sciencefictionroman, der nebenbei fragt, wie viel Krankheit eine Liebe aushält. Und wie stabil eine Psyche in einem rasant zerfallenden Umfeld bleiben kann. Die Stadt, in die Marie, ihr Freund Peter und Colina zum Studium gezogen sind, ist ein unzuverlässiges und tückisches Wesen: Schon bei der Ankunft im Zug kommt Maries Vater abhanden, dann gerät sie durch eine Verwechslung in ein Wohnheim. Ihre Zimmergenossin Colina bemerkt als Erste die kleinen Verschiebungen im Stadtbild, das Fehlen von Straßenlaternen, geschrumpfte Häuser. Niemand glaubt ihr. Dann verschwinden Kinder, Maries Mitbewohner bleiben tagelang weg, weil sie den Weg nach Hause nicht fanden. Die instabile Topografie treibt die Stadtbewohner in den Wahnsinn: „Jeder Versuch, etwas zu planen, ist von Anfang an zum Scheitern verurteilt“, sagt Marie. „Ich bin manchmal nervös. So sehr, dass mein Augenlid zuckt. Ständig bin ich auf der Suche und frage mich gleichzeitig, was mir als Nächstes abhandenkommt.“

Die Stadt, anhand von Ortsangaben wie „Pariser Platz“ oder „U-Bahn-Linie acht“ vage als Berlin erkennbar, ist wie eine Stephen-King-Variante des „Änderhauses“ aus der „Unendlichen Geschichte“, das fortwährend seine Gestalt ändert. Entwurzelte Menschen treiben zwischen Notunterkünften, spontan organisierten WGs und Fundbüros umher und suchen einander. Arbeitsverhältnisse, Freundschaften und Liebesbeziehungen sind kurzlebig und oberflächlich. Verhältnisse, die man durchaus als Anspielung auf die real existierende Berliner Boheme lesen kann: „Ich hatte noch nie darüber nachgedacht, wovon die Menschen in dieser Stadt lebten. Wir lebten, wir studierten, nahmen mal hier, mal dort einen Job an. Wer ein wenig Geld verdient hatte, wurde es schnell wieder los. Ich kannte niemanden, der reich war, aber auch keinen, der Not oder Hunger litt […].“

Niemand schafft es in dem Chaos, seine fünf Sinne beisammenzuhalten. Nicht Marie, in deren Lunge sich das „Wesen“, das ihr den Atem nimmt, immer mehr ausbreitet. Nicht ihr Freund Peter, der nackt, verängstigt und mit roten Ballerinas an den Füßen aus der Kanalisation auftaucht. Schon gar nicht die von allen gesuchte Colina, die möglicherweise nicht Opfer, sondern Triebkraft des großen Verschwindens ist.

„Eine schöne Geschichte“ ist eine absurde, in schwindelerregendem Tempo erzählte Sci-Fi-Story, deren Handlungsstränge sich auch am Ende nicht in lineares Wohlgefallen auflösen. Bis zum Schluss bleibt es spannend, apokalyptisch – und rätselhaft. Das stellenweise etwas zu dick aufgetragene Ominöse geht mitunter auf Kosten der literarischen Eleganz. Doch ein runder Erzählroman will „Eine schöne Geschichte“ auch gar nicht sein. Als pralle Endzeitgroteske voll feministischer Schuhfetischistinnen, blauäugiger Penner, weiser kleiner Mädchen und anderer wie aus David Lynchs Panoptikum entführter Gestalten ist die Geschichte auf irre Weise wunderschön. NINA APIN

Ricarda Junge: „Eine schöne Geschichte“. Fischer, Frankfurt a. M. 2008. 256 Seiten, 17,90 Euro