: Zwischen Entführer und Entführter
Für das Festival „Re-Asia“ am Haus der Kulturen der Welt verpflanzt der Regisseur Joachim Schlömer ein gewalttätiges indisches Beziehungsdrama in die multimediale Perspektive des Westens und landet damit in aktuellen politischen Debatten
VON ANNE PETER
Auch Geschichten kann man entführen. Aus einer fremden in die eigene Welt, aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Genau das tut der viel gereiste und gerühmte Regisseur-Choreograf Joachim Schlömer mit seinem Multimediaprojekt „Die Entführung von Sita“. Schlömer, ehemals Tanzdirektor in Ulm, Weimar und Basel, ist jetzt verantwortlich für freie Produktionskonstellationen.
In einer solchen Koproduktion für das „Re-Asia“-Festival im Haus der Kulturen der Welt verpflanzt er das uralte indische „Ramayana“-Epos mit den Mitteln von Sprechtheater, Tanz, Video, Musik und internationaler Besetzung in unsere Denkwelt. Behauptet wird dabei vor allem der universelle Mythos um den Vorbildherrscher Rama und seiner schönen Frau Sita. Es ist der Konflikt eines kampfbereiten, eifersüchtigen, patriarchalisch veranlagten Königs mit seiner demütigen, ihm über alle Ungeheuerlichkeiten hinweg bedingungslos zu Füßen liegenden Gattin. Diese wird vom bösen König Ravana begehrt und gewaltsam entführt, dann jedoch von Rama in einer blutigen Befreiungsaktion zurückerobert. Bloß zweifelt der jetzt – zu Unrecht – an der Reinheit seiner Frau, da sie in der Gewalt eines Fremden zugebracht hat. Um ihre Treue zu beweisen, muss Sita eine Feuerprobe bestehen. Trotzdem wird sie am Ende verstoßen.
Verlust, Krieg, Treue
Um „universale Themen“ wie „Verlust, Krieg, Treue“ gehe es hier, bringt Schlömer es selbst in seiner kurzen Einführung zu Beginn der anderthalbstündigen englischsprachigen Vorstellung auf den Punkt. Nachdem er kurz die Fabel referiert, hebt er zum großen Zuschauer-an-die-Hand-Nehmen an. Das ist zwar sympathisch, kommt aber allzu didaktisch daher. Indem er das Geschehen wie im Fast Forward an uns heranzoomt, nimmt der Regisseur uns auch die Chance, von irgendetwas tatsächlich befremdet, irritiert zu sein.
Anders suggeriert es die Tanzszene zwischen der indischen Tänzerin Vaishali Trivedi als resolut keusche Sita und dem kanadischen Tänzer Graham Smith als um Zuneigung ringendem Entführer Ravana. Sie kann nicht nur als Bild für die Geschichtenentführung selbst gelesen werden kann, sondern behauptet die Differenz der Ausdrucksmittel. Sie tanzt im Kathak-Stil mit trippelndem Aufstampfen und schnellen Drehungen. Beständig entzieht sie sich ihm dabei, während er westlich-zeitgenössisch mit geschmeidigen Gliedern schlottert. Die Tanzsprachen vereinen sich nicht, sondern versinnbildlichen die Kluft zwischen Entführer und Entführter.
Neben Trivedis Tanz ist es vor allem die Sufi- und Hindustani-Musik, die hier inmitten der Aktualisierungsbestrebungen Schlömers für Asienanbindung sorgt. Insofern weckt der Aufführungskontext auch falsche Erwartungen, denn „Die Entführung von Sita“ war schon in Freiburg zu sehen, bevor sie zum Programmpunkt des „Re-Asia“-Festivals wurde. Der Abend handelt jedoch weniger von Asien als eben von möglichen Anknüpfungspunkten unsererseits.
Das ist letztlich aber auch einfach ehrlich: Schlömer bekennt sich von Vornherein zur eigenen, westlichen Perspektive und macht sich das „Ramayana“ zum Sprungbrett, von dem er in aktuellen politischen Debatten landet. Was zum Beispiel fällt uns in unseren Breitengraden heute zum Thema Entführung ein?
Assoziationskaleidoskop
Wahrscheinlich die im Irak verschleppte Susanne Osthoff, vielleicht auch das Entführungsopfer Jan Philipp Reemtsma.
Beider Zeugnisse hat Schlömer in seiner Textcollage verarbeitet. Indem er den indischen Schauspieler Manish Chaudhari sensationsnachrichtenartig Schlagzeilen ausspucken lässt, die parallel auf die Rückwand projeziert werden, schwingt sich der Regisseur zur Medienkritik auf. Andererseits wendet er die Geiselsituation auch auf ausbeutende Arbeitsverhältnisse oder Armutsproblematik an und lässt somit in seinem Assoziationskaleidoskop dankenswerterweise durchaus Widersprüchliches zusammenfallen. Angesichts zahlloser Hunger- und Kriegstoter erscheint nämlich die gebündelte Aufmerksamkeit auf die Entführungseinzelschicksale in einem weit unverhältnismäßigeren Licht.
Johanne Eiworth spricht als zur blondperückten Westlerin transformierte Sita, mal an sich haltend wütend, mal intensiv flüsternd, den Osthoff-Reemtsma-Mix ins Mikro. Von Ähnlichkeit zwischen Tätern und Opfern ist da die Rede, von Annäherung und von Gesprächen. Von Taktiken des In-sich-selbst-Zurückziehens und der gedanklichen Annäherung an den Tod.
Am Ende züngeln per Videoprojektion die Flammen der Feuerprobe um sie empor. Grell scheint darin noch einmal das Hahnebüchene sowohl der grausamen Treueüberprüfung Ramas als auch der misstrauischen Haltung gegenüber heutigen Entführungsopfern auf: „Doesn't anybody want to ask me, how I managed to survive?“
„Die Entführung der Sita“ am 26. 4. im Haus der Kulturen der Welt