: Die Genossen an der Basis: ratlos
VON HEIKE HAARHOFF
Zweibrücken, Ortsteil Rimsch- weiler. Eine Turnhalle, gelegen im westlichsten Zipfel von Rheinland-Pfalz. Zweihundert grauhaarige SPD-Mitglieder sitzen an langen Tischen, es riecht nach Buletten und nach einem Heimspiel für den Gastredner Hubertus Heil. In Bestlaune kalauert sich der SPD-Generalsekretär, 35, auf der Bühne durch die SPD-Programmatik.
Ja, sagt Heil gerade, es gebe in Deutschland „einen Zusammenhang zwischen Übergewicht und Bildungschancen“. Aber auch Hoffnung: Er selbst beispielsweise, „gebürtiger Niedersachse“, specke derzeit ab, um nicht mehr verwechselt zu werden mit Sigmar Gabriel, dem Bundesumweltminister, „das ist der zweite dicke Niedersachse in Berlin“.
Rimschweiler ist ein Ort, an dem die SPD noch lachen kann. Jedenfalls scheint Hubertus Heil das zu glauben.
Rimschweiler, das ist Kurt-Beck-Land, heile sozialdemokratische Welt, seit drei Jahrzehnten holt die SPD hier Mehrheiten. Eine ideale Station auf dem SPD-Werbefeldzug „Deutschland-Dialog: Nah an den Menschen“, könnte man meinen. Seit März lässt die SPD ihr Spitzenpersonal unter diesem Motto durchs Land touren. In der Hoffnung, das Image der Partei, zerrieben zwischen Personalstreit, Perspektivsuche und Prognosenkrise, aufzubessern im Gespräch mit Mitgliedern, Sympathisanten, Bürgern.
Zu Wort meldet sich nun Kurt Pirmann: „Unsere Region“, sagt der Vorsitzende des SPD-Unterbezirks Pirmasens-Zweibrücken missmutig, „grenzt ans Saarland.“ Ans Saarland – das klingt wie ein Fluch. Bei der Landtagswahl 2009 muss die SPD dort nicht nur, wie neuerdings überall im Westen, den Einzug der Linken ins Parlament fürchten. Glaubt man den Umfragen, könnte sie zum Juniorpartner einer rot-roten Koalition degradiert werden – unter einem Ministerpräsidenten Oskar Lafontaine. Kann es einen grässlicheren Alptraum für Sozialdemokraten geben?
„Die Menschen“, sagt Kurt Pirmann, „erwarten von Sozialdemokraten eine Politik, in der sie sich wiederfinden.“ Luftholen. „Es fällt uns aber schwer, das zurzeit zu den Menschen zu transportieren.“ Hubertus Heil, eben noch zufrieden mit seiner Diät, sieht aus, als verliere er gerade unfreiwillig drei Kilo. Pirmanns Blick frisst ihn. Es sind diese Augen, dieses stumme SOS, das verrät, dass es hier um mehr geht als sozialdemokratische Kursbestimmung. Es geht um die Existenz. Um die Frage, ob die SPD ihren Anspruch, Volkspartei zu sein, mittelfristig noch einlösen kann.
Die Umfragen haben jüngst 24 Prozent für die SPD ermittelt – 24 Prozent und Ratlosigkeit, wie es weitergehen soll. Dieses Grundgefühl beherrscht die Debatten der SPD-Tour. Egal ob in Rimschweiler, Berlin, Gelsenkirchen oder Frechen. Egal ob die Redner Heil, Beck, Steinmeier oder Nahles heißen, sich charmant, volksnah, staatstragend oder intellektuell geben.
„Es ist wichtig, dass du uns darstellst, wie die Perspektive unserer Partei aussieht“, Pirmann klingt verzweifelt. „Damit wir spüren, dass es sich noch lohnt.“
Berlin. An einem eisigen Vorfrühlingstag kommt Kurt Beck, der angeschlagene Parteichef, in den Ostberliner Stadtteil Lichtenberg. Vor der Tür des Kulturzentrums „Kiezspinne“ demonstriert die NPD gegen den Besuch des SPD-Vorsitzenden, seit zwei Jahren sitzt sie im Bezirksparlament. Drinnen wird Beck von lokalen SPD-Politikern harsch empfangen: „Dit sieht zurzeit nicht nur in Hessen so aus, als wollten wir an die Macht, egal wie und mit wem.“
Becks Versuche, seinen Zickzackkurs im Umgang mit der Linkspartei zu rechtfertigen, die Notwendigkeit zu erläutern, sich in einem Fünfparteiensystem neuen Optionen öffnen zu müssen, sind glücklos. „Wenn Sie Ihren Job endlich richtig machen würden, hätten wir keine extremen Parteien, weder rechts noch links“, nörgelt eine Frau. Respekt vor dem obersten Mann der SPD? Ehrfurcht vor demjenigen, der der Partei bis vor kurzem als aussichtsreicher Kanzlerkandidat für das Wahljahr 2009 galt? Ach was. Kurt Beck wird jetzt wie einer behandelt, der zu sein bislang immer als seine Stärke galt: einer aus dem Volk eben.
Wild zusammengewürfelte Fragen prasseln nun auf den Parteichef ein, das Publikum hetzt Beck vom Thema EU-Rente zur Bildungsmisere an Berliner Schulen zu Leihbeamten in Bundesministerien, Tenor: Wir sind unzufrieden.
Man muss kein Fan von Kurt Beck, seinem Politik- oder Führungsstil sein, um trotzdem so etwas wie Mitleid zu empfinden: Es ist unmöglich, in dieser Gemengelage zu punkten. Geschweige denn, das eigene Image so aufzubessern, dass der gefährlichste, weil öffentlich immer noch nicht aus der Deckung getretene parteiinterne Rivale chancenlos erschiene.
Gelsenkirchen. Die Welten zwischen Kurt Beck und Frank-Walter Steinmeier, dem Außenminister, Vizeparteichef und Vielleicht-Kanzlerkandidaten lassen sich schon an der Auswahl der Stationen der SPD-Tour ermessen: In Gelsenkirchen, wohin Steinmeier fährt, um, wie es das Motto verspricht, „nah bei den Menschen“ zu sein, gibt es vorsichtshalber gar keine Menschen. Jedenfalls keine, die seine Auftritte mit unvorhersehbaren Fragen vermasseln könnten.
Gelsenkirchen also, es gibt wohl keinen zweiten Ort im Ruhrgebiet, der das Zechensterben schmerzhafter erfahren und den anschließenden Strukturwandel schwerer verkraftet hätte als die Heimatstadt des FC Schalke 04. Das Ruhrgebiet ist so etwas wie das Herzland der SPD; hier gäbe es viele Orte, mit der Parteibasis ins Gespräch zu kommen.
Steinmeier besucht eine Solarzellenfabrik in einem Gewerbegebiet, das ohne Auto schwer erreichbar ist. Aber wer nicht auf der Gästeliste steht, sondern spontan mit dem Vizekanzler sprechen wollte, käme ohnehin nicht rein.
Aufmerksam hört sich Deutschlands Chefdiplomat die Probleme des Solarunternehmens an: Die gesamte Produktion für 2008 sei bereits verkauft, obwohl das Jahr erst knapp vier Monate alt sei. Die Werksleitung suche händeringend qualifiziertes Fachpersonal, Headhunter seien in der Branche nichts Ungewöhnliches. Um der steigenden Nachfrage an Solarzellen und Photovoltaikmodulen nachzukommen, seien zusätzliche Fertigungslinien in Vorbereitung. Das Unternehmen verzeichne zweistellige Wachstumsraten, man hoffe, auch künftig Platz für weitere Expansionen am Standort Gelsenkirchen zu haben.
Steinmeier beschränkt sich auf wenige, meist technische Nachfragen; die Botschaft des Gleichnisses von Gelsenkirchen wird auch so klar: Wer wirklich will, innovativ und standhaft ist, der kann es auch unter schwierigen Bedingungen schaffen. Im Ruhrgebiet wie in der SPD.
Frechen. Norbert Pohlmann ist 52 Jahre alt. Der Betriebsratsvorsitzende des „Technikzentrums Tagebaue/Hauptwerkstatt Frechen-Grefrath“ im rheinischen Braunkohlerevier südwestlich von Köln ist treuer SPD-Wähler. Wann hat einer wie er schon Gelegenheit, mit der stellvertretenden Parteivorsitzenden Andrea Nahles persönlich zu sprechen? Also traut sich Pohlmann stellvertretend für seine 769 Kollegen und sagt, dass er sich Sorgen macht.
Sorgen über „die Technik- und Industriefeindlichkeit in Deutschland“. Sorgen, dass sein Betrieb, der die saurierhaften Schaufelradbagger repariert, dicht gemacht wird – weil der Braunkohletageabbau auch innerhalb der SPD energie- wie umweltpolitisch umstritten ist. „Es nützt aber weder der Umwelt noch dem Klima, wenn die Industrie abwandert, etwa nach China“, argumentiert Pohlmann. „Wir verraten so unsere eigenen Standards: Mitbestimmung, Arbeitsschutz, Umweltauflagen.“
Solche Momente inhaltlicher Auseinandersetzung sind selten auf dieser Tour. Vielleicht auch, weil sich viele an der Basis längst abgefunden haben mit den Grenzen einer nationalstaatlichen Partei bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme. Umso wichtiger werden in Zeiten der Globalisierung Werte wie die innerparteiliche Harmonie oder die Außendarstellung.
Die Diskussion mit der SPD-Frau Andrea Nahles über die Zukunft der Arbeit nimmt Fahrt auf. „Sag uns einen Grund, warum Arbeitnehmer SPD wählen sollten“, ruft einer. „Was habt ihr denn getan gegen die Nokia-Verlagerung, außer eure Handys wegzuwerfen“, höhnt ein anderer. Norbert Pohlmann, der Betriebsratsvorsitzende, appelliert: „Arbeitnehmerrechte sind nur dort ein Thema, wo Menschen auch Arbeit haben.“
Andrea Nahles hat in ihrer Partei andere Stürme erlebt, als dass sie jetzt die Contenance verlöre. Also sagt sie, dass „die Rückkehr in nationalstaatliche Protektionismen ein Irrweg“ sei, ein Veto für Aufsichtsräte bei Firmenverlagerungen hingegen hilfreich. Gesetzliche Mindestlöhne übrigens auch. Womit sie sowohl geschickt die Antwort schuldig bleibt als auch die Kurve kratzt zu einem versöhnlicheren Thema.
Rimschweiler. Auch Hubertus Heil gehört zu den wenigen talentierten SPD-Rednern, sein Publikum therapiert er mit schlichten Sätzen. Die allerdings – man muss es anerkennen – klingen aus seinem Mund wie Erkenntnisse und gehen in etwa so: „Wenn man in die Kneipe kommt und erst mal sagt, Entschuldigung, ich bin Sozialdemokrat, das geht nicht.“ Oder, da wildert er ein bisschen bei Willy Brandt: „Wir müssen Realitäten anerkennen, aber uns nicht mit den Verhältnissen abfinden.“ Das gelte auch für den Umgang mit der Linkspartei. Anstatt „dauernd um uns selbst zu kreisen“, müsse die SPD „den Wettbewerb in der einen Frage aufnehmen: Wer kann konkret was für die Menschen und die soziale Gerechtigkeit tun?“
Wie diese konkreten Projekte aussehen sollen, „da habe ich jetzt kein Patentrezept“, gesteht Hubertus Heil. Dann fällt ihm zu seiner Rettung ein: „Auf jeden Fall dürfen wir nicht die Generationen gegeneinander aufhetzen.“ Die erwünschte Wirkung tritt ein: Applaus.
Heil sei einer, stellt ein SPD-Mitglied fest, „der Schmackes hat und zugleich Mitgefühl“. Wenn das reicht, um einen Saal verzagter Mitglieder zu verzücken, dann sagt das viel über den Zustand der Partei.
Neulich, erzählt Hubertus Heil, sei er in den USA gewesen. Die Geschlossenheit der dortigen Wahlkampftruppen habe ihn beeindruckt, insbesondere das Selbstbewusstsein der Unterstützer von Barack Obama. „Die haben da diesen Spruch“, ruft Heil, „und ich denke, das können wir auch!?“
Erst ist es nur ein Gebrummel, zögerlich schwillt es an, dann geschieht es: Zweihundert grauhaarigen Sozialdemokraten in einer nach Buletten duftenden Turnhalle in der Westpfalz wachsen Flügel: „Yes! We! Can!“