Ein Theaterwimmelbild

Darwin heiratet Deleuze, und Charlotte Roche winkt aus der Ferne. René Polleschs neues Stück „Darwin-Win & Martin Loser-Drag King & Hygiene auf Tauris“

Eigentlich sollte das Ding ja „Diktatorengattinnen II“ werden, das Sequel zu „Diktatorengattinen I“. Wundersamerweise ist aber etwas anderes herausgekommen, nämlich „Darwin-Win & Martin Loser-Drag King & Hygiene auf Tauris“. Thumbs up für diesen Titel, der anschaulich von den Myriaden von Anstößen kündet, die der Pollesch’schen Aufmerksamkeit seit letztem Herbst den einen oder anderen Drall verpasst haben.

Kleine Reverenz an den ursprünglichen Plan: Das Publikum sitzt im Bühnenraum und blickt in die rotplüschigen, lüsterüberstrahlten Zuschauerränge der Volksbühne, den Blick allerdings verstellt vom „Diktatorengattinnen I“-Bühnenbild von hinten, also einer Sperrholzwand mit einigen Tür- und Fensteröffnungen. Davor und dahinter turnen – natürlich auch gern in Begleitung einer mobilen Kamera – die vier DarstellerInnen sowie die Souffleuse herum: Brigitte Cuvelier im Balletttutu und Nina Kronjäger mit Blaumannhose und Ripphemd sind beklebt mit Kunstbärtchen, die eine über der Lippe, die andere am Kinn. Das war’s zum Thema Drag. Dazu gesellen sich Jean Chaize in lederner Bikerkluft und vor allen Dingen: Bernhard Schütz, Hauptschauspieler und -deklamator dieses Stücks. Sein kranker Fuß war schuld daran, dass die Premiere um zehn Tage nach hinten verschoben werden musste.

Schütz steht, behängt mit goldenen Plastikketten, an einem Rednerpult, tollt durch die leeren Weltraumstuhlreihenweiten und tritt als Pinguinflüsterer und Iris Berbens Mops in Erscheinung. Ungefähre Rahmenhandlung: Vier Wissenschaftler, die alle Professor Trottelreiner heißen, treffen sich auf dem 8. Futurologischen Kongress im hundertsechsstöckigen Hilton-Hotel der Bananenrepublik Costa Rica. So weit also Klau beim Sciencefiction-Autor Stanislaw Lem. Neu dazugemengt: Vorhaben des Kongresses wie dieses etwas über 90 Minuten langen Abends ist, den Evolutionstheorie-Übervater Charles Darwin selbst als Kronzeugen gegen den Sozialdarwinismus anzurufen, sozusagen einen anderen, vergessenen gegen den Survival-of-the-fittest-Darwin ins Recht setzen.

Pollesch zieht zu diesem Zweck so merkwürdige wie interessante Ingredienzen heran wie: barock gepuderte Körperhygiene, Bändertanz, Unfallberichterstattung im Boulevard-TV, das Musical „West Side Story“, irischen Riverdance sowie die in pseudowissenschaftliche Vorträge gegossene und von Schütz so krachledern wie herrlich lakonisch vorgetragene Vermählung von Darwin und Deleuze. „Begriff, Art, Rasse – das sind nur machtvolle Abstraktionen. Aber es gibt nur die Diskontinuität und den Zufall. Es gibt überhaupt kein Sein, es gibt nur das Werden. Reißen Sie sich den Plan aus dem Arsch, stopfen Sie sich ein Klistier rein und lassen Sie es ordentlich kacheln!“ Auch Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ haben also bereits Einlass in den Echtzeit in sich einsaugenden Pollesch-Kosmos bekommen – Hämorrhoiden, Mullbinden und getrocknete Klumpen in Arschhaaren kommen auch noch vor in diesem Theaterwimmelbild.

Pollesch auf jeden Fall hat wieder und immer noch Spaß am Poststrukturalismus und seinen Schlüsselwörtern: Wuseln und Werden, Verschmelzen und Sich-Infizieren, Dauerveränderung und bitte keine blitzsaubere, klassisch reine Iphigenie. Lieber vier Schauspieler, die sich in einem silberglänzenden Stoffkokon amorph vorwärtswälzen, stöhnend interaktionistische Geräusche von sich geben und dann, quasi als kleines Marthaler’scher Impromptu, im Kanon Goethe singen: „Willst du immer weiter schweifen, sieh, das Gute liegt so nah!“ Da entsteht Heiterkeit, und Heiterkeit ist am Ende auch das vorherrschende Gefühl, das man aus diesem eigentlich viel zu breiigen, unfertigen Stück mitnimmt. „Darwin-Win“ gehört sicher nicht auf die „Best of Pollesch“-Liste, steckt einen bei etwas gutem Durchhaltewillen aber immer noch in eine Win-win-Situation.

KIRSTEN RIESSELMANN

Wieder am 4. und 18. Mai in der Volksbühne