: Aufschub durch Geschwätz
Jan Philipp Reemtsmas neues Buch über „Vertrauen und Gewalt“ schreibt die „Dialektik der Aufklärung“ fort. Jeder, der über die Moderne nachdenken will, muss es gelesen haben
VON CLAUS LEGGEWIE
Nichts ahnend fährt eine Familie über die Autobahn, als, im exakt kalkulierten Moment ein Mensch, der diese Familie nicht kennt, einen massiven Holzblock von der Brücke tritt. Die Mutter stirbt auf dem Beifahrersitz vor den Augen ihres Mannes und ihrer Kinder. Zeitungen schreiben von sinnloser Gewalt und von den Tätern, man vermutet Jugendliche. Es existiert nur ein Phantombild, das auch im Fall ihrer Ergreifung nicht schärfer würde.
Ussama Bin Laden oder einem freien Mitarbeiter seines Netzwerkes fällt ein, seine Existenz durch einen Bombenanschlag im Hauptbahnhof einer Großstadt in Erinnerung zu rufen. Tausende von Pendlern strömen gerade nichts ahnend aus den Zügen, ein paar hundert bleiben tot oder schwer verletzt auf der Strecke, ein Baby liegt zerfetzt auf dem Boden. Religiös motivierte Gewalt heißt es in den Sondersendungen, das Bekennervideo des Täters – es handelt sich um einen bis dato ganz unauffälligen Mann, der zum Islam übergetreten sein soll – macht die Tat nicht weniger abscheulich.
Soll man aber, das ist der Clou des großartigen Buchs von Jan Philipp Reemtsma, beim Familienausflug nicht weiterhin unter Autobahnbrücken durchfahren oder zum Broterwerb die Pendlerzüge besteigen? Man würde für hysterisch erklärt. Der latenten Gewaltbedrohung zum Trotz, etwas ahnend, schenken wir dem Normalvollzug ausdifferenzierter Gesellschaften und dem staatlichen Gewaltmonopol Vertrauen. Das ist aus der Sicht der traumatisierten Zeugen und Überlebenden extremer Gewalt, die den Anblick der erschlagenen Mutter oder des zerfetzten Babys niemals vergessen werden, ein Wunder. Doch die besondere Konstellation der Moderne hat selbst Auschwitz, den Gulag und Ruanda überdauert. Man kann nicht nicht vertrauen.
Reemtsmas Buch, sein Opus magnum und zugleich die Zwischensumme der Arbeiten des von ihm gegründeten und geleiteten Hamburger Instituts für Sozialforschung, spürt der Gewalt ohne abgebrühten Sensationshunger und ohne zahlengesättigten Realismus nach. Der Autor ist sichtlich erschrocken über die Potenzen des Inhumanen, aber er behält einen klaren Kopf. Er stützt sich auf Mythologie, Literatur und Populärkultur, souverän zieht er die Register der Gesellschaftstheorie; dass auf den Kronzeugen Shakespeare Hans Popitz und auf Ovids Marsyas Max Schmeling folgt, macht den Reiz des fast 600 Seiten starken Buchs aus.
Es beginnt mit der immer wieder gestellten Frage der Mutter Kempowski („Wie isses nun bloß möglich?“) und beantwortet sie in fünf großen Kapiteln. Im ersten Abschnitt befasst sich Reemtsma mit dem historisch ganz unwahrscheinlichen Vertrauen in der und in die Moderne („Man kann nicht nicht vertrauen“), das Zweite schreibt die seit Hannah Arendt immer wieder thematisierte Gegenüberstellung von Macht und Gewalt fort. Reemtsma insistiert hier auf der Körperlichkeit von Gewalt und schlägt eine interessante Typologie vor: Lozierende Gewalt (Krieg, Kriminalität, Strafe) schafft den anderen Körper aus dem Weg, raptive Gewalt will ihn benutzen („Amalia für die Bande!“) und autotelische Gewalt will ihn, einfach so, zerstören. An deren Rätselhaftigkeit ist Reemtsma vor allem interessiert, denn „sinnloser Gewalt“ um ihrer selbst willen fehlen die Rationalisierungen die (sexuelle) Gier und selbst ein Flächenbomdardement bereithalten.
Das dritte Kapitel spielt Delegitimationen und Relegitimationen der Gewalt durch. Die Erfindung eines gewaltempfindlichen Gewissens und die Zunahme des Ekels vor Gewalt schließen Exzesse keineswegs aus, müssen sie aber als „Rückfälle in die Barbarei“ deklarieren und regenerieren eben damit – Vertrauen. Die letzten Kapitel gehen die Erfahrungen totalitären Terrors bis in die Gegenwart durch und münden in Überlegungen zu Gewalt und Kommunikation, die Reemtsma in den Blick nimmt, weil die soziologische Gewaltforschung zumeist übersieht, „dass es einen Dritten braucht, real oder imaginiert, und einen Akteur, der sich auf diesen Dritten, sei er real oder imaginiert, bezieht, damit eine Gewalttat kommunikativen Gehalt bekommt“.
Reemtsma scheint am Ende jede Scheußlichkeit der Moderne als homme détaché abgeschritten zu haben und zitiert Adorno: „Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend. Denken hat die Wut sublimiert. Weil der Denkende es sich nicht antun muss, will er es auch den anderen nicht antun.“ Dann folgt der korrigierende Satz, der den inneren Antrieb sichtbar macht, der dieses Werk hervorgebracht haben mag:
„Die Ruhe, die das Theoretisieren für sich selbst beschwört, ist der Aufschub durch das Geschwätz. Wer immer von einem anderen Menschen mit dem Tode bedroht wurde, kennt das: auf jemanden einzureden mit der fixen Idee, ihn von seinem Vorsatz abzubringen, tatsächlich, bloß um sich einen Aufschub herbeizureden.“
So wird die „Dialektik der Aufklärung“ fortgeschrieben, neben der sich „Vertrauen und Gewalt“ jetzt schon ohne Zweifel einreihen kann. Dieses Buch muss jeder gelesen haben, der über die Moderne nachdenken will. Und der Autor erspart seinen Lesern sogar die Unterstreichungen, indem er kurze Passagen kursiv setzt, was beim Zurück- und Vorblättern hilfreich ist. Wie nebenbei liefert er auch eine Geschichte des Erfolgsmodells Bundesrepublik. Reemtsma, Jahrgang 1952, widerspricht dem Urmisstrauen eines Thomas Mann oder Theodor Adorno, die eine Restitution der bürgerlichen Ordnung nach dem Faschismus für ausgeschlossen hielten, und dem geliehenen Verdacht der 68er, die die Gewaltexzesse der Wehrmacht-Väter stets denunziatorisch, aber selten analytisch behandelten. Das ist natürlich kein Freibrief und keine Lebensversicherung. Die frivole Erosion des Folterverbots im „Krieg gegen den Terror“ zeigt, wie dünn das Eis letztlich ist und wie absturzgefährdet die stabilste Demokratie. Sie gerät durch die „sinnlose Gewalt“ der Steinewerfer und Selbstmordattentäter in Panik und setzt, indem sie die moderne Gewaltaversion herunterschraubt, Vertrauen in Gewalt.
Jan Philipp Reemtsma: „Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne“. Hamburger Edition, Hamburg 2008, 576 Seiten, 30 Euro