: „Die Reichen rechnet man nicht mit“
Alle sind entsetzt, doch das Statistische Landesamt winkt ab: Der Armutsbericht der Regierung enthält „nichts Neues“
Herr Schlichting, der neue Armutsbericht der Bundesregierung hat allgemein für Erschrecken gesorgt. Zu Recht?
Karl Schlichting, Statistisches Landesamt Bremen: Wenn Sie mich fragen: Nein. Das ist alles nichts Neues. Die Armutsentwicklung hält schon lange an, aber seit Hartz IV wirkt sie sich massiv aus. Es ist allerdings absehbar, dass sich diese Entwicklung bei älteren Menschen beschleunigt.
Dem Bericht zufolge ist derzeit jeder achte Deutsche arm. Gilt das auch für Bremen?
Nein. Hartz IV macht Armut für uns Statistiker ungeheuer leicht erfassbar. Arm ist, wer von Hartz IV lebt. In Bremen sind das 100.000 Menschen. Dazu kommen 5.000 arme Rentner.
Das ist ungefähr jeder sechste Einwohner. Ist es hier also besonders schlimm?
Ja und nein. Einerseits führt Bremerhaven seit vielen Jahren das Städteranking der Sozialhilfeempfänger an, Bremen liegt auf Platz vier. Andererseits ist eine starke Einkommenspolarisierung in Großstädten normal. Es gibt hier eben auch traditionell sehr viele Reiche. Aber die zählt man ja nicht mit.
Man zählt die Reichen nicht mit?
Nein. Seit einigen Jahrzehnten werden Personen, die pro Monat mehr als 18.000 Euro verdienen, für die Erhebungen, auf denen die Armutsberichte basieren, nicht mitgerechnet.
Weshalb?
Einige Vertreter dieser Gruppe haben das mit dem Argument durchgesetzt, sie seien nicht repräsentativ, deshalb müssten sie sich auch nicht durch unsere Befragungen belästigen lassen.
Das verzerrt doch das Ergebnis.
Natürlich. Und zwar nach unten. In Bremen gibt es etwa 1.500 Personen mit so einem Einkommen. Das sind weniger als ein Prozent aller Steuerpflichtigen. Aber sie erwirtschaften fast 15 Prozent des Gesamteinkommens. Dadurch, dass sie nicht in der Stichprobe enthalten sind, sinkt das ermittelte Durchschnittseinkommen. Für den Staat hat das den angenehmen Nebeneffekt, dass die Hartz IV-Sätze unten gehalten werden – die orientieren sich nämlich an dem ermittelten Durchschnittseinkommen.
Taugen die Armutsberichte dann überhaupt etwas?
Ja. Der Bericht ist sehr vielschichtig, das verwendete Zahlenmaterial ist ausgesprochen hochwertig. Nur die Berechnung des Durchschnittseinkommens, aus dem sich die ermittelte Armut ableitet, ist aus den genannten Gründen verzerrt.
Interview: Christian Jakob