In der Hölle der Unsicherheit

Seit Jahren wird Michael Hardts und Antonio Negris Weltbestseller „Empire“ heftig diskutiert. Ein neuer Sammelband will nun die Empire-Theorie mit Fakten untermauern. Das gelingt zwar nicht durchgehend, ist aber allemal lesenswert

„Empire“ hat den Weltmarkt auf die Tagesordnung gesetzt. Michael Hardt und Antonio Negri diagnostizierten die „Globalisierung“ als das Auftauchen einer weltumspannenden Produktionsweise. Dieser neue Weltmarkt sucht nach seinen politischen und rechtlichen Versicherungen. „Empire“ hat widersprüchliche Reaktionen ausgelöst. Für die einen war das Buch das „Kommunistische Manifest des 21. Jahrhunderts“, für die anderen bloße Scharlatanerie.

Ein Sammelband mit Beiträgen internationaler Autoren bringt nun eine Versachlichung und Weiterführung der Diskussion. Der Blick auf die internationale Debatte lässt zunächst die Provinzialität der deutschen Theorielandschaft erkennen. In Frankreich und Italien, in Argentinien und den USA, in Indien und Japan wird „Empire“ intensiv diskutiert. Im Vaterland der Kritischen Theorie und der zweiten Moderne ruhet still der See.

Die Autoren des Sammelbands nehmen die Gegenwartsdiagnose von „Empire“ ernst. Der vor unseren Augen entstehende Weltmarkt schafft neue Arbeitsverhältnisse, neue Abhängigkeiten, neue Orte der Politik, neue Möglichkeiten von Widerständigkeit. Negri selbst beginnt mit einem Beitrag, der sein Konzept der immateriellen Arbeit im Rückgriff auf Marx und Foucault erläutert. Es folgen Nahaufnahmen globaler Arbeitsverhältnisse, die interessanterweise ausschließlich aus feministischer Perspektive erfolgen. Die schöne neue Arbeitswelt hat zwei Seiten. Der Zwang zur Selbstverwertung ist die eine, die Prekarisierung die andere. Die „Hölle der Unsicherheit, in der wir leben“, wie eine spanische Haushälterin sagt, hat viele Gesichter.

Marion von Osten etwa zeigt in einer klugen Analyse von Helke Sanders Film „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit“ aus dem Jahr 1979, wie schon sehr früh in der Arbeitswelt die Impulse der antiautoritären Bewegungen in ihr Gegenteil verkehrt wurden. Die Selbstständigkeit wird zum Gefängnis verinnerlichter Disziplin und ständiger Überforderung.

Ähnliches beschreiben die Precarias a la Deriva, eine Gruppe spanischer Aktivistinnen, in einer Untersuchung, die während eines Streiks in Madrid entstand. Für die Hausarbeiterinnen, die Arbeiterinnen in Callcentern, für Pflegekräfte und eine Vielzahl intellektuell-künstlerischer Berufe verschwinden soziale Rechte, gehen klare Arbeitszuschreibungen verloren, existiert keine eigene Welt außerhalb der immateriellen Arbeit. So trägt eine Lateinamerikanerin in Madrid frühmorgens Zeitungen aus, führt tagsüber den Haushalt prekarisierter Mittelständler und organisiert abends per Telefon ihre Familie in Ecuador.

Die Frage nach neuen politischen Räumen und Subjekten führt im zweiten Teil des Bandes zum Problem der globalen Bürgerschaft, während im dritten Teil die Frage der Biopolitik steht. Dieser von Foucault erfundene schillernde Begriff dominiert die gesamte Matrix von „Empire“. Marianne Piepers Beitrag zu diesem Thema ist sicherlich die bisher profundeste Einführung in die Diskussion.

Judith Revel wiederum verdeutlicht, worin sich Biomacht als eine totale Erfassung der Kräfte der menschlichen Existenz von Biopolitik als der Erfindung neuer Subjektivitäten unterscheidet. Maurizio Lazzarato beschreibt die neuen Inbesitznahmen der lebendigen Kräfte im Übergang von der Disziplinar- in die Kontrollgesellschaft.

In diesen Beiträgen offenbart sich jedoch auch eine große Gefahr dieses Diskurses. Neue Begriffe tendieren dazu, zum neuesten Jargon zu werden. Der Sammelband entgeht dieser Versuchung nicht immer. Stark in der Analyse prekärer Arbeitsverhältnisse, ist er nicht selten langatmig in seinen theoretischen Exkursen. Foucaults Zauberwort von der Biopolitik findet sich so mehrmals ausführlich abgearbeitet. Weniger wäre hier mehr.

Empire“ und „Multitude“, „immaterielle Arbeit“ und „biopolitische Produktion“, „Kontrollgesellschaft“ und „imperiale Aristokratien“: Hardt und Negri haben Wörter erfunden, um das Neue der historischen Situation in den Be-Griff zu bekommen. Ihre Denkfigur hat eine Renaissance starker linker Theorie eingeläutet. Nun steht die Probe auf dieWirklichkeit an. Ansonsten droht der Empire-Diskussion das Schicksal der Postmoderne, die schnell zu einem akademischen Glasperlenspiel verkommen ist.

Die Schwäche von „Empire“ war die schmale empirische Basis. Auch „Multitude“, der Folgeband, konnte diese Erwartungen kaum erfüllen. Der nun von einer Gruppe um die Hamburger Soziologin Marianne Pieper herausgegebene Band bemüht sich, die empirische Leerstelle zu füllen. Er ist also mehr als eine gelungene Einführung in die Empire-Theorie. Aber gerade in diesem Versuch teilt er mit seinen Theoriehelden drei blinde Flecke.

Wie bei Hardt und Negri wird die ökologische Frage völlig ausgeklammert. Die biopolitische Wende weiß nichts vom Ende des fossilen Kapitalismus. Eine zweite Leerstelle betrifft das Fehlen der nichtwestlichen Welt. Mike Davis’ „Planet der Slums“ ist hier als Zusatzlektüre unverzichtbar. Erst die Verdichtung von Massenintellektualität und Massenverelendung ergibt das gesamte Bild.

Ein drittes Manko ist die Schwierigkeit, das global Gemeinsame zu fixieren: Wer ist die Multitude? Wie sehen globale Vorstellungen von einem gelungenen Leben aus? Existiert etwas jenseits der konsumistischen Mobilmachung, der neoliberalen Subjektivitäten, des irrlichternden Produktivitätswahns?

Michael Hardt und Antonio Negri haben diese Fragen auf die Tagesordnung gesetzt. Dies bleibt ihr großes Verdienst. Aber erst die Antworten werden zeigen, ob „Empire“ nur ein Theoriebestseller in einer geistig dürren Zeit war oder eine Epoche der Reflexion eröffnet hat, die den Weltmarkt tatsächlich zu denken versteht. ULRICH BRIELER

Marianne Pieper, Thomas Atzert, Serhat Karakayali,Vassilis Tsianos (Hg.): „Empire und die biopolitische Wende. Die internationale Diskussion im Anschluss an Hardt und Negri“. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2008, 316 Seiten, 29,90 Euro