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Archiv-Artikel

Adieu, Bionade Boheme!

Sie sind Mitte 30, voll krass jugendlich und Ihnen tut der Rücken weh? Werden Sie doch erwachsen! Ein Vorabdruck aus dem Lebensabschnittsbuch für die Generation Umhängetasche

VON MARTIN REICHERT

Ein paar Socken … Ein Paar Wechselsocken trägt nur bei sich, wer unter krankhaften Schweißfüßen leidet. Alle anderen Menschen bewahren dieses Kleidungsstück in der Sockenschublade auf. Was voraussetzt, dass man einen Schrank besitzt. Wo bewahren Sie denn gerade Ihre Socken auf? In einem Schuhkarton, der unter der mobilen Kleiderstange in Ihrem Schlafzimmer steht? Im Wäschesack, den Sie an jener Kette befestigt haben, die sich quer durch Ihr Zimmer zieht und Ihre Hemden auf halbmast trägt? Toll, dass Sie einen begehbaren Schrank haben. Schade nur, dass dieser begehbare Schrank genau genommen Ihre Wohnung ist.

Eine Freundin, wackere 78erin, wunderte sich unlängst über den unbändigen Willen zur Verbürgerlichung, den sie bei einigen Dreißigjährigen in ihrer arbeitsweltlichen Umgebung, der Filmbranche, festgestellt hat: „Die wollen alle eine Couch und einen Wohnzimmertisch, ich verstehe das einfach nicht. Fehlt nur noch die Schrankwand.“ Das liegt daran, dass diese Couch einen sicheren Untergrund bietet. Nämlich die Gewissheit, es doch noch gerade so geschafft zu haben. Die Mittelschicht, insbesondere die bildungsbürgerliche, ist seit je von sozialen Abstiegsängsten geplagt. Realistische Gründe dafür gab es immer, und es gibt sie heute erst recht: Nicht nur die Polkappen schmelzen, auch die Mittelschicht schmilzt. Eine Designercouch wird so zur Arche, die Auftrieb verleiht inmitten der als Sintflut empfundenen gesellschaftlichen Entwicklungen.

Verabschieden Sie sich also von den Takelagen und Behelfsregalen, und fahren Sie auf dem kürzesten Weg zu Ikea. Es macht überhaupt nichts, dass dieses Möbelhaus mittlerweile zu einer Chiffre geworden ist, die in den Feuilletons kritisch verhandelt wird. Ikea ist Symbol für Eskapismus, Privatismus, hedonistischen Ästhetizismus und wird als angeblicher Versammlungsort all jener Menschen denunziert, die sich von Utopien und politischem Engagement entfernt haben und deren Träume nicht weiter als bis zur Haustür ihrer geschmackvollen Wohnung reichen. Mag sein. Jedenfalls kann man dort für eine überschaubare Summe sehr hübsche Lampen, Regale, Betten, Vorhänge, Kissen und sonstige Utensilien erwerben, die für die Schaffung eines schönen Heims vonnöten sind. Und wer sagt eigentlich, dass man nicht mehr von einer gerechteren Gesellschaft träumen kann, nur weil man ein vernünftiges Bett mit XXL-Bettdecken hat? Und sind Menschen, die nicht mal die Tür ihres Badezimmerschränkchens reparieren können, geeignet, den Sozialstaat wieder auf solide Füße zu stellen?

Nein, nicht alle Menschen sind in der Lage, sich am eigenen Schopf aus dem Dreck zu ziehen – und mein persönlicher Sachbearbeiter für die Wiedereingliederung in das sozial verträgliche Wohnwesen war ein befreundeter Innenarchitekt. Mein Scout für die Ikeawelt. Nach ungefähr sechs bis sieben Stunden, einer Köttbullar- und fünf Kaffeepausen inklusive Refill hatten wir die zentralen Elemente zusammen. Und zwar entsprechend dem vorher besprochenen Farbkonzept. Jawohl: Farbkonzept! „In einer angenehm wirkenden Wohnung sollten die Vorhänge, Kissen und sonstigen Elemente farblich miteinander korrespondieren, so ist das nun mal“, sprach der Designer, der nicht davor zurückscheute, mich bei akuten Trashrückfällen zurechtzuweisen: „Ich verbiete dir, diese Kissen zu kaufen!“

Als die Vorhänge dann hingen, bekam ich es erst mal mit der Angst zu tun. Seit meiner Kindheit hatte ich keine Vorhänge mehr gehabt, später folgte ich meiner idealisierten Vorstellung von niederländischer Liberalität und fand es ganz großartig, in meiner Wohnung Reality-TV für die Nachbarschaft zu inszenieren. Dann war da noch das neue Bett mit dem Kopfteil und den praktischen Schubfächern für die Wäsche. In meinen Albträumen mutierte es zum Elternschlafzimmer mit Schleiflackkommode. Zuvor hatte ich den Wunsch geäußert, Bücherregale zu besitzen, die bis zur Decke reichen, immerhin 3,10 Meter hoch. Ein Sofa sollte her und, der Altbaustuckrosette in Raummitte wegen, ein Kronleuchter. Den ich dann auch beim Trödler um die Ecke für billig Geld erworben habe und der nun beim Einschalten Licht auf eine recht schicke Wohnung wirft. Da könnte man jetzt bei Bedarf auch locker ein Fernsehteam hineinbitten, um vor dem 3,10 Meter hohen, fest verdübelten (!) Bildungsbürgertrumm etwas Gewichtiges zur Verortung des Fluxus in der Moderne zu sagen. „Ich habe dir doch schon vor Jahren gesagt, dass du jetzt mal langsam bürgerlich werden könntest“, ätzte ein wesentlich reiferer Freund bei seinem Antrittsbesuch, und ich fühlte mich ganz schön ertappt. „Mag sein“, antwortete ich, „aber ich kann immer noch behaupten, dass das mit dem Kronleuchter nur ironisch gemeint ist.“

In Wahrheit hatte ich auch ohne den äußeren Druck einer anstehenden Familiengründung das innere Bedürfnis, endlich eine gemütliche und funktionale Wohnung mein Eigen zu nennen, in die man ohne Scham Freunde und Kollegen einladen kann. Ich war des ironisch gebrochenen WG-Stils mit seinen ernstlich überfüllten Mülleimern und überquellenden Aschenbechern müde geworden und sehnte mich nach einem Neubeginn. Dem vorausgegangen war jedoch zunächst eine ernsthafte Wahl des Standorts, der beruflichen Tätigkeit und der Partnerschaft. Eine erwachsene Wohnung zu gestalten heißt, sich selbst gegenüber ehrlich zu sein. Bei der Einrichtung geht es nur bedingt darum, etwas darstellen zu wollen.

Möchten Sie wirklich so wohnen wie in einem Berliner oder Kölner Club? Wenn dem so ist, tun Sie es, und achten Sie bei der Auswahl der Discokugel darauf, dass sie nicht quietscht, während sie ihre Runden dreht. Und geben Sie dem Dealer, der in Ihrem Badezimmer wohnt, regelmäßig etwas zu essen. Sonst entstehen, auf die Dauer gesehen, unangenehme Gerüche. Bedenken Sie bei der Gestaltung: Als Langzeitadoleszenter haben Sie sich jetzt jahrelang um die eigene Achse gedreht und Ihre Befindlichkeiten bis in den letzten Winkel mit der Halogentaschenlampe ausgeleuchtet. Sie haben darüber nachgedacht, wer Sie sind, woher Sie kommen und wohin Sie gingen, wenn Sie würden gehen wollen. Sie sollten jetzt zumindest zu einem vorzeitigen Arbeitsergebnis gekommen sein. Also ungefähr wissen, was Ihrem Geschmack entspricht und was nicht. Vielleicht haben Sie an diesem Punkt sogar schon ein Bedürfnis nach Kontinuität entwickelt, sodass das ein oder andere Erbstück aus Familienbesitz Eingang in Ihr Wohnzimmer findet. Falls es keine Erbstücke gibt, gehen Sie zum Trödel und behaupten hinterher einfach, dass dieses gute Stück ein hölzern-gedrechselter Ausdruck Ihres Stammbaumes ist. Machen die anderen auch so. Eine Schleiflackkommode lässt sich mit etwas Mühe ebenfalls adrett herrichten, und den Ohrensessel im Stile des Gelsenkirchener Barocks von Tante Inge kann man mit hübschen Stoffen neu beziehen. Als Erwachsener hat man eine autonome Identität entwickelt, die ohne laut vorgetragene Ressentiments gegen die Altvordern und ihren Lifestyle auskommt – und ihn auch nicht eins zu eins imitiert. Sie wollen doch nicht, dass Ihr Wohnzimmer genauso aussieht wie das Sprechzimmer Ihrer Mutter. Und ja: Sie legen sich damit vorübergehend fest und müssen damit rechnen, dass diese Wohnung bei Besuchern einen bleibenden Eindruck von Ihnen hinterlässt. Solange dieser Eindruck nicht total täuscht, weil die Gestaltung nicht aufrichtig ist oder ganz einfach nur prätentiös, sollte das aber kein Problem für Sie sein. Legen Sie einfach immer die Zeitschrift Foreign Affairs zuoberst auf den Zeitschriftenstapel, und brechen Sie das Arrangement mit einer wie absichtslos liegen gelassenen alten Eintrittskarte für ein Kaiser-Chiefs-Konzert.

Allem (Neu-)Anfang wohnt ein Zauber inne: Plötzlich fühlt sich das Dasein ganz anders an, und neue Möglichkeiten erscheinen am Horizont. Gleichzeitig bedeutet jede Veränderung, und sei es nur ein profaner Wohnungswechsel inklusive Neueinrichtung, eine unzumutbare Anstrengung – aber gerade als Langzeitadoleszenter darf man Veränderungen gegenüber eigentlich nicht ablehnend sein, ist doch die Bereitschaft zur Veränderung ein Ausweis von Jugendlichkeit. Haben Sie etwa Angst vor Veränderung und sind klammheimlich bereits uralt? Tun Sie es also einfach. Kaufen Sie Vasen. Sie müssen es ja nicht gleich übertreiben, Bodenvasen sind nur was für Fortgeschrittene. Senfgläser gehören in den Müll und nicht in die Vitrine. Besorgen Sie sich Eierbecher und Salzstreuer, ein vernünftiges Besteck und von mir aus eine Parmesanreibe. All dies sind Dinge, die in einen vernünftigen Haushalt gehören.

Ich selbst habr die Hardcorehaushaltsszene in dem Moment betreten, als ich mir eine Salatschleuder kaufte. Mein Freund ist allerdings anschließend fast vom Glauben abgefallen: „Eine Salatschleuder! Das ist das Erste, was ich damals nach der Wende in einem westdeutschen Haushalt zu sehen bekommen habe. Und ich dachte nur: Diese dekadenten Arschlöcher!“ Soll er doch weiter matschigen Salat essen! Die Salatschleuder ist nun mal die Krönung eines ernsthaften Haushalts. Sie mit sirrendem Seil zu bedienen ist fast so lustvoll, wie auf den Einschaltknopf der Spülmaschine zu drücken. Nehmen Sie nun bitte die Socken aus Ihrer Umhängetasche, und deponieren Sie sie im dafür vorgesehenen Schubfach Ihres Schranks. Nach Benutzung können Sie die Socken waschen und wieder aufhängen: Es gibt tatsächlich Leute, die ihre Socken nach einem Mal Tragen einfach wegwerfen, weil Sie keine Lust auf Waschen und Aufhängen haben. Kein Witz.

Ein weißes Mac-Book … Den Neunzigerjahren mit ihrem künstlichen Wiedervereinigungswirtschaftswunder auf Staatskosten und der zu Technomusik vorgetragenen Hoffnung auf „Friede, Freude, Eierkuchen“, ihren angeblich unbegrenzten Möglichkeiten und Freiheiten folgte der Crash der New Economy, also der für Sie selbstverständlich attraktiven Idee, reich zu werden, ohne arbeiten zu müssen. Nur wenig später läutete der Einsturz der New Yorker Twin Towers eine lange währende Wirtschaftsrezession ein, und die D-Mark wurde zum Euro. Seitdem sitzen Sie in der Warteschleife, ob nun im oder vor dem Callcenter: „Please hold the line.“

Sie haben das Gefühl, nicht wirklich gebraucht zu werden, und das ist einer der Gründe, weshalb Sie Ihre Jugendlichkeit zum Selbstzweck erheben. Sie sind stolz auf Ihren Habitus, den Ihnen vermeintlich niemand nehmen kann – und er gibt Ihnen ein Gefühl von Geborgenheit und Schutz. Die Staatskassen sind leer, der Sozialstaat wurde einem „Relaunch“ unterzogen, der es auch Menschen wie Ihnen viel schwerer macht, denn Sie können nicht mehr einfach ein Jahr irgendwo in einem Verlag arbeiten, sich dann arbeitslos melden und das Arbeitslosengeld als Vorschuss nutzen, um einen Roman zu schreiben – oder als Reisekasse für eine Rucksacktour durch Australien. Sogar das Häuschen, das Ihnen Ihre Großmutter wegen der Erbschaftsteuer schon jetzt überschrieben hat, müssten Sie herausrücken, um weiter in den Genuss von Sozialleistungen zu kommen. Hartz IV bedeutet nicht nur weniger Geld, sondern auch jede Menge Stress.

Als Hartz-IV-Bezieher gehören Sie zwar weiter zu den Agenturmenschen, aber die Agentur heißt „Bundesagentur für Arbeit“. Diese gibt Ihnen etwas Venturekapital, wenn Sie sich für die berufliche Selbstständigkeit „entscheiden“. Es blieb Ihnen jedoch wahrscheinlich gar nichts anderes übrig, als den Weg der Selbstständigkeit zu wählen. Ganz einfach, weil die begehrten Festanstellungen mit Krankenversicherung, Kündigungsschutz und vermögenswirksamen Leistungen für Sie unerreichbar erscheinen.

Die Gesellschaft, in der Sie leben, teilt sich mittlerweile in Drinnen und Draußen: im System oder nicht im System. Sie sitzen stattdessen mit Ihrem weißen Mac, den Ihre Eltern oder Großeltern Ihnen als Anschubfinanzierung für Ihre Existenz spendiert haben, in einem Café mit Hotspot-WLAN, halten sich den ganzen Tag an einem Cafè Latte fest und versuchen, irgendwie Geld zu machen. Vielleicht simulieren Sie aber auch nur und surfen stattdessen auf Pornoseiten herum. Die Mode, solche Tätigkeiten – Webdesign, Werbung, Marketing, Concepting, Consultancy whatsoever – öffentlich in ebenerdigen Ladengeschäften mit riesigen Schaufenstern auszustellen, ist längst überholt. Die digitale Boheme erledigt das, was sie Arbeit nennt, nun tatsächlich im öffentlichen Raum, also in der Gastronomie. Weil es billiger ist, als ein Büro anzumieten.

Das Büro können Sie nämlich schon lange nicht mehr finanzieren, weil trotz beharrlicher Arbeit keine Honorare hereinkommen. Das liegt auch daran, dass es zu viele Menschen gibt, die hoffen, mittels ihrer Kreativität längerfristig irgendwo landen zu können. Das verdirbt ganz einfach die Preise. Zudem: Niemand bezahlt heute seine Rechnungen pünktlich. Sie ja auch nicht. Die ganze Welt ist im Dispo. Ihre Kollegen und Sie selbst sind jederzeit bereit, einen Entwurf oder ein Konzept unentgeltlich zu liefern, solange der Auftraggeber einigermaßen namhaft ist und die leise Hoffnung einer Anstellung offeriert. Diese Hoffnung existiert meist nur in Ihrem Herzen, denn die dortigen Auftraggeber sind zwar froh, einen Schreibtisch mit Stuhl ergattert zu haben, sind aber auch entschlossen, diesen bis aufs Messer zu verteidigen. Wenn diese Menschen, die mit Mühe und Not das rettende Ufer erreicht haben, ihren Sessel behalten wollen, müssen sie ihren Chefs ständig prickelnde neue Ideen liefern. Die haben sie aber nicht mehr jeden Tag, weil sie sich nicht mehr die Nächte um die Ohren schlagen und Drogen nehmen und sich Gedanken über Gott und die Welt machen und nachts bei Laternenlicht und Dosenbier den Vollmond anheulen. Stattdessen machen sich die Fest- oder nur befristet Angestellten Gedanken darüber, wie sie es schaffen, dass ihr Nachwuchs nicht in die Grundschule mit den vielen Migrantenkindern gehen muss, die zum Interieur des Szenebezirks gehören, in dem sie gerade eine Dachgeschosswohnung auf Pump gekauft haben.

Es ist gar nicht so leicht, eine Europa-, Waldorf- oder Privatschule zu finden, die den kleinen Prinzen und Prinzessinnen gemäß ist. Zudem müssen sowohl die Wohnung als auch der persönliche Look und der Körper ständig aktualisiert, also auf den neuesten modischen Standard gebracht werden. Es sind auch Langzeitadoleszente, allerdings hat die Umhängetasche viel mehr gekostet als Ihre. In der Dachgeschosswohnung eines solchen „arrivierten Kreativen“ sah ich einmal einen Schrein: einen Helmut-Newton-Bildband im Wert von mehreren tausend Euro, der auf einem Notenständer aufgebahrt war. Daneben waren Kerzenständer drapiert, ganz nach der Art eines Altars. Sich so etwas auszudenken erfordert viel Energie, Zeit, Geld und schlechten Geschmack. Zudem gilt es, Gäste mit erlesenen Menüs zu beeindrucken, weshalb man mit dem Volvo durch entlegene Dörfer fahren muss, um Stubenküken zu finden, die ausschließlich mit Bärlauch gefüttert wurden. Es sind erfolgreiche Bobos, Bourgeois Bohemians, die total „jugendlich rüberkommen“ und dafür total viel Geld ausgeben: für Schönheitsoperationen und runtergekommene Jeans im Wert eines Einfamilienhauses.

Sie sehen also: Ihre Auftraggeber haben keine Zeit, Ideen für den Beruf zu entwickeln, deshalb greifen sie lieber gleich auf Ihre zurück. Leider gibt es dafür, in Zeiten nicht nur leerer Kassen, sondern auch knapper Budgets, kein Geld. Also kein Bärlauchstubenküken für Sie. Sie schaffen es nicht mal auf den Status eines Bobos, denn Sie verfügen nicht über die entsprechenden Mittel. Stattdessen können Sie froh sein, wenn Ihr Name im Abspann oder sonst wo unter „ferner sangen“ auftaucht. Wenn Sie Pech haben, können Sie sich Ihre erfolgreich umgesetzte Idee einfach nur in die Mappe kleben. Wiederum in der Hoffnung, dass diese Mappe jemand sehen will. Sie können diese Leute hassen und verwünschen. Nützt aber nichts. Sie gehen so mit Ihnen um, weil sie es können. Denn zuvor haben sie sich den Sessel und den Schreibtisch auf irgendeine Art erobert, mit lauteren Mitteln oder mit anderen.

Ihr Problem besteht unter anderem darin, dass Sie am kürzeren Hebel sitzen und andere Ihre Hoffnungen und Träume ausbeuten können. Wenn Sie für Ihre Arbeit, welcher Natur sie auch immer sei, nicht den entsprechenden Lohn einfordern, dann werden Sie entsprechend behandelt.

Man nimmt Sie und Ihre Arbeit einfach nicht ernst. Ihre Arbeit ist nichts wert. Auch hier herrscht das Prinzip von Angebot und Nachfrage, es ist wie in der heimatlichen New-Wave-Dorfdisco von früher. Wer sich jemandem auf der Tanzfläche aufdrängt, bekommt fast immer einen Korb. Wer sich interessant macht und dem begehrten Gegenüber suggeriert, dass er begehrenswert sei, bekommt eher einen Blumentopf. Im bundesdeutschen Grundgesetz wurde leider verabsäumt, ein Recht auf Glück zu verankern. Und nirgendwo steht geschrieben, dass einem irgendein fester Platz gehört. Es sei denn, Sie tragen tatsächlich einen Adelstitel und erben demnächst ein Schloss in Brandenburg. Dann haben Sie allerdings ein Problem mit der Heizölrechnung.

Haben Sie denn ernsthaft ein Leben lang darauf hingearbeitet, erfolglos zu sein? Das kann durchaus ehrenwert und glücksversprechend sein – wenn man starke Nerven hat. Falls dem nicht so sein sollte: Seien Sie stark und mutig. Glauben Sie an sich, und machen Sie sich klar, dass die anderen auch nur mit Wasser kochen, wenn Sie nachts um vier schlaflos im Bett liegen, weil Sie Zukunftsängste haben. Und vor allem: Lassen Sie sich das nicht gefallen.

Lassen Sie sich nicht das Nutella vom Brot kratzen. Denn viel schlimmer als das, was oben blockiert ist, ist nur noch das, was von unten nachdrückt: die tatsächlich noch Jungen. Während Sie das kritische Alter für ein Praktikum längst überschritten haben, stehen Fünfundzwanzigährige mit Hochschulabschluss, fünf Fremdsprachen und drei Jahren Auslandserfahrung am Start. Und im Gegensatz zu Ihnen sind die wirklich wild entschlossen.

Hungrig. Die wissen genau, dass sie im Ernstfall nur zwei Wochen haben, um sich irgendwo festzukrallen. Sie treten dementsprechend nassforsch bis dreist auf. Das kann sehr unangenehm sein, ist aber zum Beispiel im Bereich des Privatfernsehens, das hauptsächlich von Praktikanten, Trainees, Volontären und Menschen mit Projektverträgen gemacht wird, eine gute Strategie. Auch weil die dortigen Berufsjugendvampire immer frisches, junges Blut brauchen.

Es besteht also Handlungsbedarf. In der Politik würde man sagen: Zeit für einen Maßnahmenkatalog. Sie müssen ein Reformpaket schnüren. Eine individuelle Agenda 2.0 entwerfen. Falsch war im Prinzip schon die Wahl Ihres Arbeitsgeräts, das Sie durch die Straßen tragen. Der Mac ist sehr schön und hat ein atmendes kleines Lämpchen und ist Ausdruck einer der Ästhetik zugeneigten Lebens- und Arbeitsweise. Zugleich ist er Sinnbild Ihres kreativen Schaffens zwischen Internet, Visual Art und Klanginstallation. Sinnbild Ihrer Auffassung von einem gelungenen Leben, das Arbeit und Privatleben widerspruchslos ineinandergleiten lässt und so erfüllt ist wie Ihre Festplatte, auf der sich Playlists und Konzepte auf engem Raum drängen. Und er ist viel zu teuer.

Bei Licht betrachtet, könnten Sie sich aus eigener Kraft höchstens ein Gerät der Aldiklasse leisten, das auf der funktionalen Ebene auch ausreichen würde. Ihr heiliger Mac dagegen ist nicht nur sehr teuer, sondern auch sehr anfällig. Bei meinem eigenen ging neulich nach nur einem Jahr die Tastatur kaputt, genau einen Tag nach Ablauf der Garantie. Die Reparatur nahm insgesamt drei Wochen in Anspruch. Drei Wochen sind fast ein Monat, der gewisse Kosten verursacht, die zu erwirtschaften man ein Arbeitsgerät braucht. Im Mac-Store sagte man mir dann auf Anfrage, dass ich selbst schuld sei, denn die Macs würden so gehypt, dass wegen überlasteter Kapazitäten die Qualität nicht mehr gewährleistet werden könne.

Skandalöser ist nur noch, dass man bei so etwas mitmacht. Pelikan oder Geha, diesen ganzen Blödsinn eben, den man immer noch so wichtig nimmt. Immer noch Angst, von den Klassenkameraden ausgelacht und gemobbt zu werden, weil man das falsche Federmäppchen hat. Erwachsene Menschen sollten sich von diesen Grausamkeiten der Kinderzeit längst emanzipiert haben. Also: Mut zu Medion. Diesen Rechner tragen Sie nun nach Hause und bringen ihn mit Ihrem DSL-Anschluss in Verbindung, den Sie zuvor beantragt haben. Sie können diesen Anschluss teilweise von der Steuer absetzen, und er ist so wichtig wie Ihre Versorgung mit Strom, Gas, Wasser und Bionade. Schluss mit den Netzschwankungen im Café, weil jemand gerade alle Folgen von „24“ runterlädt, Schluss mit den mürrischen Blicken der Bedienung und den Rückenschmerzen aufgrund der schlechten Haltung, die der Loungeeinrichtung Ihres „Arbeitsplatzes“ mit niedrigen Tischchen geschuldet ist. Sie haben schon genug Rückenschmerzen wegen der Umhängetasche, und eine physiotherapeutische Behandlung kostet Geld, das Sie nicht haben, weil Sie schon längst nicht mehr krankenversichert sind. Ihr Budget erlaubt diese monatlichen Ausgaben nicht. Denken Sie, weil Sie immer noch davon ausgehen, einen jugendlichen Körper zu haben.

Wenn Sie ein Auto in Ihrem Alter führen, wären Sie bestimmt bereit, den monatlichen ADAC-Beitrag zu zahlen. Falls Sie mal liegen bleiben. Wenn Ihnen Ihr Rechner signalisiert, dass Sie eine Netzverbindung haben, fangen Sie an, nach Stellen zu suchen. Überall in Deutschland. Auch in Erfurt, Hannover und Osnabrück. Sie wollen nicht nach Osnabrück? Wussten Sie, dass dort, statistisch gesehen, die glücklichsten Menschen Deutschlands wohnen? Vielleicht gehören Sie bald dazu. Das geht aber nur, wenn Sie eine Entscheidung treffen.

Die Boheme, digital oder analog, lebt von dem Anspruch, eine künstlerische oder doch lebenskünstlerische Existenz abseits, aber am Rande des Bürgerlichen zu führen. Doch nur sehr wenigen ist es vergönnt, diesen Anspruch wirklich umzusetzen. Es sind auch nur sehr wenige, die tatsächlich den Mut haben, eine solche Existenz zu führen. „Ausnahmemenschen, die den Reiz einer Durchschnittswelt ausmachen, die sie ausstößt“, wie der französische Künstler Jean Cocteau diesen Zusammenhang treffend benannte. Ein Sinnsprüchlein, das Wasser auf die Mühlen einer jugendlichen Befindlichkeit ist.

Der Jugendliche fühlt sich während der Ausbildung seiner Identität abgesondert und allein – ausgestoßen. Er schwankt zwischen zermürbenden Selbstzweifeln und Hybris, zwischen Selbsthass und dem dringenden Bedürfnis, der Welt mitzuteilen, was sie und vor allem ihn selbst im Innersten zusammenhält. Wenn dann auch noch ein gewisser Andy Warhol erzählt, dass jeder Mensch ein Künstler sei und das Zeug habe, berühmt zu werden – und sei es nur für fünfzehn Minuten –, dann ist man dem Missverständnis, dem weite Teile der bundesrepublikanischen Mittelstandsjugend erliegen, schon sehr nahe. Es ist das gleiche, leider oft sehr tragische Missverständnis, dem die Fans von „Deutschland sucht den Superstar“ erliegen und das den Eignern der Produktionsfirma Endemol Millionen um Millionen bringt. Jeder Mensch möchte etwas Besonderes sein, einzigartig unter den Vielen.

Tragisch ist vor allem, dass so viele Menschen nicht glauben wollen, dass sie tatsächlich etwas Besonderes sind. Als ob dies erst wahr würde, wenn man im Fernsehen auftritt. Setzen Sie sich mal mit einem Glas Rotwein und einer Schachtel Gitanes auf Ihr neues Sofa und fragen sich erstens, ob Ihre Kreativität ausreicht, um damit Ihren Lebensstandard zu sichern. Fragen Sie sich zweitens, ob auf den Quellen Ihrer Schaffenskraft genug Druck ist, um davon eine Existenz zu bestreiten. Sind Sie hinreichend beschädigt, narzisstisch gekränkt oder sonst wie vorbelastet, um den entsprechenden Willen zur Selbstentäußerung und einen soliden Geltungsdrang aufzubringen? Auch wenn Sie sich eine konträre Kunstauffassung angeeignet haben: Passt sie zu Ihrem Leben?

Falls dem nicht so sein sollte, ist es an der Zeit, sich einem unaufgeregten, durchschnittlichen Leben zu stellen. Auch das kann ein Abenteuer sein. Oder aber, Sie entschließen sich tatsächlich, alles auf eine Karte zu setzen und den Durchbruch zu wagen. Mit einer halbgaren Attitüde kommt man da nicht allzu weit. Die Musikerin Annette Humpe hat Erfolg mal als Kuchen definiert, bei dem keiner der Anteile fehlen darf, wenn das Backwerk nicht misslingen soll: Man nehme ein Viertel Talent, ein Viertel Fleiß und Durchsetzungsvermögen, ein Viertel Intelligenz und ein Viertel Glück. Haben Sie alles beisammen? Beäugen Sie Ihren Kuchen mal kritisch, und überlegen Sie dann, ob Sie doch lieber auf Coppenrath & Wiese zurückgreifen, Ihre Zutaten ergänzen oder die Bäckerei an den Nagel hängen, weil die Kundschaft ausbleibt.

Schlüssel zum Elternhaus … Die Grundlage eines so genannten unaufgeregten, durchschnittlichen Lebens ist ein Beruf. Ein eigenes funktionierendes Unternehmen, das einen Gewinn erwirtschaftet. Sie müssen arbeiten. Alle müssen das, und nicht alle haben die Möglichkeit dazu. Falls Sie also aufgrund Ihrer Ausbildung oder Ihrer Fähigkeiten die Möglichkeit haben sollten, einen Arbeitsplatz zu erhalten, ergreifen Sie die Chance, anstatt den Job sausen zu lassen, weil Sie lieber eine Band gründen wollen, für die es keinen Proberaum gibt und noch immer keinen Drummer. Falls dieser Job unterhalb Ihres Qualifikationsniveaus angesiedelt ist: Nehmen Sie ihn trotzdem an, denn was nützt es schon, ein Ersteklasseticket zu haben, wenn der Zug gerade abgefahren ist? Wenn Sie einmal auf dem Karussell drauf sind, können Sie immer noch versuchen, während der Fahrt einen anderen Platz zu ergattern.

Noch eine kurze Lautsprecherdurchsage für Lehramtsreferendare und -anwärter im Wartesaal: Wenn Sie schon auf Nummer sicher, nämlich auf Lehramt studiert haben, dann schlagen Sie sich jetzt sofort die Idee von der eigenen Plattenfirma oder dem Concept-Store „Kakteen und Gebäck aus Italien“ aus dem Kopf, und treten Sie das Referendariat an beziehungsweise kümmern Sie sich um eine Stelle. Wenn Sie erst mal verbeamtet sind, können Sie so viele Kakteen züchten und Plätzchen backen, wie Sie wollen. Bei diesen vielen Urlaubstagen und diesem Gehalt. Es ist noch nicht zu spät.

Freuen Sie sich doch, dass Sie einen Beruf ausüben können, der der Gesellschaft nützt, anstatt ihr Schaden zuzufügen. Klar, Sie können junge Menschen auch verändern, indem Sie sie mit Werbekampagnen für Schokolade und immer neuen Klingeltönen infiltrieren – aber es ist in unser aller Interesse, wenn die Heranwachsenden auch noch das Alphabet können (!) und en passant den ein oder anderen humanistischen Wert vermittelt bekommen.

Für die Nichtlehrer unter den Lesern: Unterlassen Sie bitte sofort die Unart, jedes Mal „Another Brick in the Wall“ aufzulegen, wenn Lehrer bei einer Party den Raum betreten. Das ist Mobbing. Außerdem können die Ihnen vielleicht mal was leihen, wenn Sie wieder pleite sind. Wo wir schon beim Gehalt und der Verbeamtung sind: Den Schlüssel zu Ihrem Elternhaus haben wir auch deshalb von Ihrem Schlüsselbund entfernt, damit Sie sich nicht weiter darauf verlassen, dieses Haus mal zu erben. Und auch nicht die Zweit- oder Drittimmobilie, die Ihre Eltern aus dem Boden gestampft haben.

Falls Sie zu den Privilegierten gehören, die einmal etwas erben werden, bedenken Sie Folgendes: Neben der Erbschaftsteuer und etwaigen erbberechtigten Kindern, die in jener Zeit entstanden sind, als man die freie Liebe feierte, und von denen Sie leider erst zur Testamentseröffnung erfahren werden, droht weiteres Ungemach. Stellen Sie sich nur mal vor, dass Ihre Eltern zum Pflegefall werden. Längerfristig. Wollen Sie dann heimlich den Stecker ziehen, weil Sie verabsäumt haben, sich um Ihre Rente zu kümmern? Und haben Sie schon mal daran gedacht, dass die Preise für die Einfamilienhäuser in Provinzvororten längerfristig ziemlich ins Rutschen geraten dürften, weil es immer weniger Menschen gibt, die in solchen Häusern wohnen wollen? Und auch, dass deren Bausubstanz aus den Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahren stammt und sie dementsprechend nicht für die Ewigkeit konzipiert sind?

Achten Sie beim nächsten Besuch zu Hause auf Schimmelgeruch in den Kellerräumen. Und dann überlegen Sie sich das noch mal mit der privaten Altersvorsorge. Sie können natürlich auch auf Peter Scholl-Latour hören, der die jungen Menschen auffordert, sich angesichts des Weltgeschehens lieber zu bewaffnen, anstatt sich um die Rente zu kümmern. Wenn Ihnen Weltuntergangsszenarien gefallen, bitte. Die Zeugen Jehovas jedoch rechnen zwar jeden Tag mit der Apokalypse, bauen aber trotzdem einen Königreichssaal nach dem anderen. Auf soliden Fundamenten. Man kann eben nie wissen. Und Peter Scholl-Latour hat seine Schäfchen längst im Trockenen. Beware of the old men, die haben schließlich nichts mehr zu verlieren. Sie schon. Als Zwischenschritt, Sie sitzen immer noch auf Ihrer Couch und trinken schweren Rotwein, hören Sie das Album „O. K. Computer“ von Radiohead. Trauern Sie, weinen Sie, genießen Sie noch einmal das Gefühl, das diese Musik transportiert und das der Singer-Songwriter Rufus Wainwright einmal als „Die Welt ist mein Aschenbecher“-Gefühl bezeichnet hat. Trinken Sie die ganze Flasche aus.

Und am nächsten Tag stehen Sie auf, nehmen eine Kopfwehtablette und fangen an, Bewerbungen zu schreiben. Ihren Rechner ketten Sie mit einem Stahlseil genauso an den Schreibtisch wie sich selbst. Er wird nun nicht mehr durch die Gegend geschleppt, denn bald werden Sie einen Rechner an Ihrem Arbeitsplatz haben.

Die Krisen des Kapitalismus verlaufen zyklisch, eine Rezession endet irgendwann, genauso wie ein Lebensabschnitt. Die Welt hat vielleicht gar keine Lust, Ihnen als Aschenbecher zur Verfügung zu stehen. Sie ringt schon so mit belastenden Verschmutzungen und hustet Ihnen was.

Und die Generationsgenossen mit den sogenannten konventionellen Lebensläufen haben in ihrer sogenannten Provinz schon ein Haus gebaut und eine Familie gegründet, während Sie immer noch nicht bei der letzten Folge von „Friends“ angekommen sind, obwohl es die Serie schon gar nicht mehr gibt.

MARTIN REICHERT, 35, taz-Redakteur, lebt in Berlin und Kremmen. In „Wenn ich mal groß bin. Das Lebensabschnittsbuch für die Generation Umhängetasche“ (Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2008, 224 Seiten, 8,95 Euro) erklärt er, wie Erwachsenwerden funktioniert, ohne seine Ideale aufzugeben. Der Autor präsentiert sein Buch am 3. Juli um 20.30 Uhr im Berliner Club Berghain, Friedrichshain, Zitty-Leserlounge, Am Wriezener Bahnhof; Musik: Motor FM DJ-Team