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Archiv-Artikel

Flüchten, bevor auch noch das Wasser kommt

Aus Angst vor Dammbrüchen und Überflutungen werden hunderttausende Menschen aus dem Erdbebengebiet in China evakuiert. Unterdessen steigt der Unmut der Bevölkerung über Korruption und Pfusch am Bau – insbesondere an Schulgebäuden, in denen tausende Kinder ums Leben kamen

AUS PEKING JUTTA LIETSCH

Unablässig steigt der Wasserspiegel des künstlichen Stausees am Tangjia-Berg in der Katastrophenprovinz Sichuan. Aus Angst davor, der aus Geröll und Erdreich geschaffene Damm könnte brechen und eine gewaltige Flutwelle das Tal überschwemmen, haben die Behörden am Freitag begonnen, 200.000 Menschen in höhere Gebiete zu evakuieren.

Wie groß die Gefahr und wie angespannt die Situation ist, zeigte sich an den widersprüchlichen Informationen, die gestern aus der Industriestadt Mianyang drangen. Während es zunächst hieß, 1,3 Millionen Bewohner müssten flüchten, war später von einer „dreitägigen Übung“ die Rede, mit der die Bevölkerung auf den Notfall vorbereitet werden soll.

Fieberhaft gruben derweil rund 1.000 Soldaten an einem Kanal, durch den der Tangjiashan-Stausee, der durch das Erdbeben am 12. Mai entstanden ist, abfließen soll. Schwerer Regen hat in den letzten Stunden die Arbeiten erschwert. In den vergangenen Tagen wurden bereits knapp 160.000 Menschen evakuiert. Rund 178.000 Soldaten, Milizen und Reservisten sind inzwischen im Erdbebengebiet.

Besonders gefährdet sind die Industriebetriebe, darunter auch zahlreiche ältere Chemieanlagen, außerdem Atomforschungsreaktoren und Rüstungsfirmen. Zeitungen berichteten gestern, man suche noch nach „99 radioaktiven Quellen“, die beim Beben verschüttet oder verloren gegangen seien. Was damit gemeint war, bliebt zunächst offen. Vor wenigen Tagen war noch von zwölf solcher verschwundenen Quellen die Rede.

Eine Diskussion, warum so viele Staudämme und gefährliche Produktionsstätten ausgerechnet in einem Erdbebengebiet angesiedelt wurden, hat es knapp zwei Wochen nach der Katastrophe noch nicht gegeben. Gleichwohl scheint bei einigen Unternehmen ein Umdenken einzusetzen. Der staatliche Energieriese PetroChina erwägt, wie es heißt, ein Chemiewerk im Wert von 3,5 Milliarden Euro nicht in der Region zu errichten.

Chinas Zensoren versuchen derweil, die Debatten im Internet über korrupte Machenschaften unter Kontrolle zu bringen, die nach Ansicht vieler Eltern schuld daran sind, dass so viele Schulen eingestürzt und so viele Kinder ums Leben kamen. Viele empörte Berichte über Pfusch und Betrug wurden auf Webseiten gelöscht.

Als Reaktion auf den wachsenden Zorn in der Bevölkerung versprachen die Behörden, die zerstörten Schulgebäude zu untersuchen und die Schuldigen zur Rechenschaft zu ziehen. Außerdem erließ Peking eine Direktive, nach der jeder streng bestraft wird, der Spendengelder abzweigt, Hilfsgüter verkauft oder sich anderweitig am Unglück der Erdbebenopfer bereichert.