Glaube und Ohnmacht

Mit seinem Gewissen ringen: das schmale Werk von Albrecht Goes

Der Pfarrer Albrecht Goes lebte von 1908 bis 2000 und hinterließ ein schmales Werk, bestehend aus Lyrik und Erzählungen, das nun zu seinem hundertsten Geburtstag in zwei Bänden erscheint. Zuweilen hat seine Dichtung einen ziemlich langen Bart. Da wird viel in Versen und Prosa gemenschelt. Manches scheint also überholt. Doch man sollte umsichtig urteilen. Gerade im Zusammenhang mit dem Holocaust gibt es einige Texte, die einen relevanten Aspekt deutscher Mentalitätsgeschichte im 20. Jahrhundert aufwerfen. Denn Goes’ protestantische Sichtweise und Sozialisation sind nicht untypisch für seine Generation.

Ähnlich wie der katholische Schriftsteller Reinhold Schneider hatte Goes seine Leserschaft hauptsächlich in den Fünfziger- und Sechzigerjahren. Er gehörte zu den Pazifisten der ersten Stunde; und er war einer der ersten Autoren, die das Gewissen der BRD repräsentierten, als das Gepäck der Kriegsverbrechen noch unverschnürt im Keller der Nation lag.

Gerade die 1954 im Fischer Verlag publizierte Erzählung „Das Brandopfer“ gestattet einen guten Einblick in die damalige mentale Verfassung im Lichte eines christlich-deutschen Menschenbildnisses. Goes erzählt dort auf knapp vierzig Seiten die Geschichte der Metzgerin Walker, der das zweifelhafte Privileg zuteil wird, ihr Geschäft jeden Freitag für jüdische Kundschaft zur Verfügung zu stellen. Die ohnmächtige Nächstenliebe der Figur angesichts nationalsozialistischer Diskriminierung ist das Thema des Textes, was zum Teil bizarre Situationen hervorruft – wenn zum Beispiel in der Fleischerei ein spontaner, traurig-stiller Sabbat gefeiert wird. Und als Leser kann man heute nicht mehr im Ernst des Textes versinken, weil Frau Walker ein so goldenes Herz hat – an dem sie schließlich derart schwer trägt, dass sie sich bei einem Bombenangriff den Flammentod im eigenen Haus als Sühne sucht, um dann noch von einem Juden in letzter Minute gerettet zu werden.

Wer das für einen deplatzierten Plot hält, übersieht jedoch die Entstehungszeit. Goes ging nämlich mit bewusst schlichtem Stil der Frage nach, warum die ethisch tradierten Werte im Kontext einer Diktatur nicht griffen – und implizierte dabei, dass die moralischen Imperative aus dem Christentum, gleichgültig welcher Konfession, in modernen, hochtechnisierten Gesellschaften zu Bruch gingen. Seine Figur, die Frau Walker, kann ihre Nächstenliebe nur in der Selbstauslöschung suchen. Das alles ist aus dem Geiste der Nachkriegsjahre verständlich, Jahrzehnte danach haftet dem etwas Problematisches an. Das kann man allerdings Goes’ bester, 1963 veröffentlichten Erzählung „Das Löffelchen“ nicht nachsagen.

Die Geschichte spielt 1943 in einem deutschen Feldlazarett in der Ukraine. Um einen ukrainischen Juden vor dem Zugriff der SS zu schützen, stellt Dr. Wieland ihn als Hausmeister unter falschen Namen ein. Außer ihm wissen nur der Ich-Erzähler (wie Goes ein Lazarettgeistlicher), ein paar Ärzte und eine Krankenschwester um die falsche Identität des Mannes. Am Ende der Geschichte, als ein Trupp SS-Leute die Station heimsucht, fliegt die Tarnung auf. Goes hat die spannende Erzählung wie ein Kammerspiel arrangiert. Mit genauen und unbestechlichen Blick beobachtet er die Bedingungen unter einem aggressiven Polizeistaat. Präzise hält er die langsam kollabierende Kriegsatmosphäre fest.

Natürlich stehen im Mittelpunkt aufrichtige Deutsche, wie dieser Dr. Wieland, der einmal erzählt, wie in seiner Heimatstadt Hamburg ein jüdischer Arztkollege „abgeholt“ wurde. Wenngleich das in diesem Text nicht zum Problem wird, weil die Verstrickungen und Hilflosigkeiten der Figuren nicht auf einen Freispruch hin angelegt sind, so kreist doch alles um die Metaphysik des deutschen Anstands in Zeiten totalitären Sittenerdrutsches. Demgemäß hat Goes mit seiner Lyrik ebenfalls mit ähnlicher Programmatik auf die Umwälzungen der Moderne reagiert. Seine Gedichte – allesamt handwerklich makellos ausgearbeitet – lesen sich wegen ihrer religiösen Innerlichkeit und dem Gestus der Rückkehr zum Ländlichen wie Mitteilungen aus einer Zeit, die man heute nicht mehr richtig versteht.

Die unschuldige Kinderzeit, der den Menschen dauernd erwartende Tod, der seufzende Blick in den Himmel als Tröstung über die Vergänglichkeit des Daseins: All das findet man da vor. Aber man begreift, dass Goes sein Glaubensverständnis wie eine Nussschale empfunden haben muss, die mit ihm als einsamem Passagier durch wilde Zeiten schaukelt. In gewisser Weise ist das ein Bild der Diaspora. Goes hätte da aber wohl widersprochen. MANUEL KARASEK

Albrecht Goes: „Gedichte“. 200 Seiten, Fischer, Frankfurt a. M. 2008, 14,80 Euro „Was wird morgens sein? Erzählungen“. 367 Seiten, Fischer, Frankfurt a. M. 2008, 9,95 Euro,