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Archiv-Artikel

Gerockt wird trotzdem

Ein Festival kann nachhaltig sein, behaupten die Macher des Lüneburger Uni-Open-Airs „lunatic“. Am Samstag feierten knapp 2.000 Besucher – und warfen ihre Pommesschälchen brav in die Mülleimer. Die Mission der Macher ist hart: Im Idealfall sollte niemand auf irgendetwas verzichten müssen

Das beste Gewissen nützt nichts, wenn das Festival-Publikum schlechte Laune hat oder ganz zu Hause bleibt

VON FLORIAN ZINNECKER

Nachhaltigkeit ist nicht grundlos eine Wissenschaft für sich. Allein Plakate können diesbezüglich echt Probleme machen: „Wir haben unser Promotion-Material diesmal rein auf Ökopapier drucken lassen“, sagt Nadja Seibert. „Letztlich sah das sogar schöner aus als auf normalem Papier.“ Seibert, 25, studiert an der Leuphana Uni Lüneburg Angewandte Kulturwissenschaften und gehört zum rund 20-köpfigen Organisationsteam des lunatic-Festivals. Dessen fünfte Ausgabe stieg am Samstag auf dem Lüneburger Campus.

Kurz vor dem Tag X dann waren unerwartet die Plakate ausgegangen. Die Nachdrucke wurden zwar rechtzeitig fertig – doch leider auf normalem Papier. „Alles andere hätte zu lange gedauert“, sagt Seibert. „Das sind Dinge, die ein bisschen weh tun: Du bemühst dich über Monate hin, dieses Festival so nachhaltig wie möglich aufzuziehen – und kurz bevor alles fertig ist, merkst du, es geht doch nicht.“ Andererseits: „Wir brauchen einfach genügend Besucher, um nicht Minus zu machen.“ Was irgendwie auch eine Art von nachhaltigem Denken ist.

Keine Frage: Dieses Dilemma ist nicht das einzige, womit sich das Orga-Team im Laufe der vergangenen Monate konfrontiert sah. Ein anderes: Der Platz, ein betonierter Parkplatz, worauf sich gegen 14 Uhr schon erstaunlich viele Besucher verirren, in der Hand den Gratis-Begrüßungscocktail für frühe Vögel. Unmittelbar daneben liegt ein Biotop, „wir versuchen unsere Ziele so weit an die Gäste zu kommunizieren, dass sie ihren Müll nicht gerade dort hineinschmeißen“, sagt Seibert. Und? „Die meisten halten sich daran.“

Die Mission, nicht einfach „nur“ ein Campus-Festival auf die Beine zu stellen, hat sich der gemeinnützige Verein Ende 2006 ins Stammbuch geschrieben. „Aus Überzeugung“, sagt Seibert, „wahrscheinlich sind wir auch ein Stück weit von der Uni geprägt.“ Der lunatic e. V. rekrutiert sich aus einem Seminar für Nachhaltigkeitsforschung, das Konzept des ersten nachhaltigen lunatic-Festivals wurde 2007 von der Jimmy-Carter-Stiftung ausgezeichnet.

Ein Platz-Problem gibt es trotzdem, schon hör-, aber noch unsichtbar: Das Uni-Präsidium plant, auf den Parkplatz ein neues Zentralgebäude mit Audimax zu bauen. Wird der Plan realisiert, muss das lunatic weichen. Wohin? „Wissen wir nicht, auf dem Campus würden wir schon gerne bleiben“, sagt jeder, der hier und heute mit Festival-T-Shirt und Backstage-Pass ausgerüstet ist. Professor Ferdinand Müller-Rommel, der auf der Pressekonferenz das Präsidium vertritt, sagt Ähnliches. Offenbar besteht noch Hoffnung.

Der Platz füllt sich. 1.900 Leute werden heute kommen – was sich, der Schlange am Eingang nach zu urteilen, noch ein Weilchen hinziehen wird. Die Schlage teilt sich in Männlein und Weiblein, jeder Einzelne wird kontrolliert, Flaschen sind tabu, Tetra Paks nicht.

Tetra Paks nicht? „Auf alles können wir einfach nicht achten“, sagt Nadja Seibert, „die Leute dürfen natürlich Tetra Paks mitbringen, jeder einen. Das nutzt man dann natürlich, das kann ich ja auch irgendwie verstehen.“ Nachvollziehbar: Das beste Gewissen nützt ja nichts, wenn das Festival- Publikum schlechte Laune hat oder zu Hause bleibt – weil niemand Lust hat, nur warmes Bier ohne Kohlensäure zu trinken, das es auf dem Gelände zu kaufen gibt. Die Temperatur, übrigens, bleibt über den Abend konstant. Das Schankpersonal arbeitet, wie jeder hier, ehrenamtlich. „Das“, sagt Nadja Seibert, „spart uns eine ganze Ecke Geld.“ Wofür es – im Zeichen der Nachhaltigkeit – sinnvollere Zwecke gibt. „Nachhaltig zu sein verursacht immer Mehrkosten“, sagt Seibert, „wir machen da sowieso schon an allen Ecken und Enden Abstriche.“

An einigen allerdings nicht: Mittels eines CO2-Rechners am Geländerand kann jeder Besucher ausrechnen, wie viel Kohlendixoid jeder Gast allein mit seiner Anfahrt der Atmosphäre überantwortet hat. „Das rechnen wir auf alle Gäste hoch“, sagt Seibert, „beziehen dann auch die Bands ein“ – und sofern genug Geld übrig bleibt, wird davon ein CO2-Zertifikat gekauft, das in Entwicklungsländern nachhaltige Klimaprojekte fördert. „Natürlich gibt es da immer wieder Diskussionen“, sagt Seibert, „wir kalkulieren ja wirklich eng, und irgendwen gibt es immer, der dann fragt: Können wir uns das eigentlich leisten?“ Die Antwort lautet möglichst Ja. „Die Mehrheit unseres Teams pocht schon darauf. Weil wird das wollen und davon überzeugt sind. Außerdem haben wir es so angekündigt“, sagt Seibert. Sie hoffe nicht, dass es nach außen hin aussehe, als sei der Nachhaltigkeitsgedanke nur aufgesetzt. „Wir meinen das ernst.“ Ungünstig auf die CO2-Bilanz wirkt sich aus, dass mit Friska Viljor und den „Shout out Louds“ zwei Bands aus Schweden da sind. Jedoch: Beide sind ohnehin auf Tour. Dafür steht gerade die HipHop-Combo „Flowin Immo & Les Freaqz“ im Stau. Auf der Autobahn.

Der Platz füllt sich weiter. Nach dem Opener „Phrasenmäher“ spielen „1000robota“, drei gerade nicht mehr minderjährige Jungs aus Hamburg: brachial und laut, beides zu gleichen Teilen. Wie viel Strom verbraucht eigentlich so eine Band? „Boah, jede Menge“, sagt Nadja Seibert. „Unsere Headliner ziehen sogar eine so dicke Show auf, dass wir da technisch an der Grenze sind. Mehr ginge nicht.“ Während gerade noch „1000robota“ lärmen, fluten Scheinwerfer von der Bühnendecke auf die Köpfe der Besucher. Die Sonne scheint. Ökostrom, übrigens, ist es nicht, der da verbraucht wird. Wenigstens werfen die Besucher ihre leer gegessenen Pommes-Schälchen auch noch nach 20 Uhr größtenteils brav in den aufgestellten Mülleimer.

„Ausnahmslos nachhaltig“, sagt Nadja Seibert, „sind wir natürlich längst nicht. Ein Festival kann das wahrscheinlich nie erreichen.“ Vielleicht auch, weil jeder, der ein Festival besucht, für ein paar Stunden mal nicht an morgen denken will. Dafür kommt das Catering von Bauern aus der Region. „Mia.“, der Headliner, kriegt ein Wildschwein, geschossen von einem befreundeten Jäger. „Natürlich gibt es auch Produkte, auf auf die wir beim Catering nicht verzichten können“, sagt Seibert. „Manches wird konkret gefordert, und wenn wir professionell sein wollen, dann müssen wir die auch hinstellen.“ Ein Headliner, der schlechte Laune verbreitet, weil er keine Bananenmilch bekommen hat, hilft ja auch keinem.

„Mia.“, übrigens, sind gut gelaunt. Und während sie ihren „Tanz der Moleküle“ mit der Aufforderung einleiten, man möge doch bitte auf Theorien pfeifen, macht sich bei den Veranstaltern sichtlich das Gefühl breit, dass sich jede einzelne Kilowattstunde, die hier gerade in den Nachthimmel fliegt, gelohnt hat.