: Vorteil für Unruhestifter
Die ersten EM-Spiele haben gezeigt: Erfolgreicher Fußball ist vor allem schneller Fußball. Und wer spielt den am besten? Unsere taz-Tempo-Elf
VON RAINER SCHÄFER
Wie wird man Europameister? „Die großen Duelle“, sagt Hans Meyer, zuletzt Trainer beim 1. FC Nürnberg, „werden darin gewonnen, was ich Spiel gegen den Ball nenne, also in der Organisation nach Ballverlust.“ Geht es etwas exakter? „Wie schalte ich um, wie verschiebe ich zum Ball hin, wie sorge ich dafür, dass mein Gegner Chancen und Tore, das, was alle sehen wollen, nicht erlebt?“ Mit großen Duellen meint Meyer Spiele, wie sie bei der EM täglich aufgeführt werden. Meyer beschreibt eine Strategie, die in erster Linie auf die Verhinderung von Toren abzielt, wie sie Italien als Voraussetzung für seine Erfolge seit langem praktiziert: die hohe Kunst der Defensive.
Aber nach den ersten acht Gruppenspielen ist offensichtlich: Das reicht nicht. Sonst hätte vermutlich Rumänien beste Aussichten auf den Titel. Gegen Frankreich zog Rumänien ein Defensivspiel auf vom Feinsten, taktisch diszipliniert bis zur Selbstaufgabe, in der Offensive versuchten sie sich kaum. Was zu einem Unentschieden reichte. So holt man aber keinen Titel.
Wie wird man also Europameister? Indem man möglichst viel Chaos verursacht beim Gegner, dessen Ordnung zerstört mit blitzschnellen Attacken, mit überraschenden Angriffen. Mit Tempo, mit Handlungsschnelligkeit, denen der Kontrahent nicht gewachsen ist. Chaos verursachen und im eigenen Spiel Unordnung verhindern, durch akkurate Defensivarbeit. Das ist es.
Was auffällt bei dieser EM: Es geht inzwischen um Sekunden, die den Unterschied ausmachen zwischen den europäischen Spitzenteams und den anderen Mannschaften, den Teams der mittleren und fehlenden Geschwindigkeit. Tempo, das ist das Stilmittel, das bislang die EM auszeichnet. Die explosive Spieleröffnung, die beispielsweise Spanien an Russland demonstrierte, zeigt dessen Möglichkeiten und Wirkungen: Rasend schnell überbrückten Xavi, Francesco Fabregas und David Silva das Mittelfeld, mit präzisen Pässen, weniger Ballkontakte sind kaum möglich, mehr Beschleunigung kaum denkbar. Nicht nur einmal setzten sich drei Spanier gegen sieben Russen durch, die allerdings lethargisch verteidigten wie eine Reihe Topfpflanzen.
Von den 16 Mannschaften führten bislang nur vier das Stilmittel des schnellen und überraschenden Handelns vor, präsentierten lediglich vier die fast perfekte Balance, Angriffe zu verhindern und eigene zu setzen: Portugal, Spanien, Deutschland und die Niederlande. Was die vier Tempomacher von den anderen unterscheidet: hohe Spielgeschwindigkeit, gekoppelt an eine hohe Passsicherheit, häufige Positionswechsel und eine enorme Variabilität im Spielaufbau. Diese Mannschaften nutzen alle Möglichkeiten der Offensive: über links, rechts, durch die Mitte. Und natürlich arbeiten elf Mann an der Defensive mit: Was die deutschen Stürmer Gomez und Klose im Rückwärtsgang in die Stabilisierung des eigenen Spiels investieren, ist enorm.
Die Niederlande sind zurück auf der Bühne der großen europäischen Mannschaften. Aggressiv, effizient, schön und schnell, das sind die Merkmale des neuen niederländischen Spiels. Das 2:0 gegen Italien ist einen Eintrag wert in das aktuelle Lehrbuch des Tempofußballs: Giovanni van Bronckhorst klärt auf der eigenen Linie zu Wesley Sneijder. Der setzt Rafael van der Vaart ein, der wieder auf den mittlerweile 70 Meter gesprinteten van Bronckhorst auf dem linken Flügel passt. Eine Ballberührung später lässt Dirk Kuyt auf der gegenüberliegenden Seite den Ball abtropfen, und Sneijder, der eben noch am eigenen Strafraum gewesen ist, verwandelt volley zum 2:0: 17 Sekunden von der Balleroberung bis zum Tor, 17 Sekunden von der eigenen Torlinie zur gegnerischen. Eine rasante Abfolge von Aktionen, über die müde Italiener wohl jetzt noch rätseln.
Bei den meisten Teams, auch bei Polen, Kroatien oder Tschechien, bleibt die Beschleunigung des Spiels auf einzelne Akteure beschränkt. Und es sind nur kurze Unterbrechungen in einem Tempoverschleppungs-Fußball, die dessen Beschränktheit erst richtig verdeutlichen.
Aber was ist mit den Franzosen los, die bei den letzten Turnieren offensiven Angriffsfußball zeigten? Die einzelnen Mannschaftsteile unterstützen sich zu selten, dem direkten Kombinationsspiel wird oft der einfältige Steilpass vorgezogen. An Teams wie Österreich oder Griechenland möchte man die These wagen, dass es nebensächlich ist, ob mit einer Dreier- oder Viererkette verteidigt wird, welches Spielsystem praktiziert wird, wenn es nicht durch Leben und Tempo beseelt werden kann. Eine Behauptung, die auch im Umkehrschluss gilt: Deutschland spielt ein 4-4-2, das mit Lukas Podolski beinahe zum 4-3-3 wird, die Niederlande mit einem 4-2-3-1. Hauptsache, der Gegner verliert dabei seine Ordnung.
Griechenland braucht kein Geheimtraining, um das einzuüben, was gegen Schweden nicht geklappt hat. Das war Folterfußball. Otto Rehhagel sollte seine Trainerlizenz zurückzugeben, so wie mancher alternde Autofahrer seinen Führerschein abgibt, wenn er merkt, dass die Geschwindigkeit auf den Straßen ihn überfordert.
Dem deutschen Team muss nach dem Auftakt gegen Polen nicht bange sein vor Kroatien und Österreich. Was danach kommt? Jogi Löw verfügt nicht über außergewöhnliche Individualisten wie Portugal oder Spanien. Aber er hat Spieler, die über den stärksten Ordnungswillen in den Spitzenmannschaften verfügen, allen voran Michael Ballack und Torsten Frings. Vor allem hat Löw, ein Trainer, der den zeitgemäßen Fußball verstanden hat, seinem Team ein Spielsystem beigebracht, das auf physischer Stärke und Tempo basiert, auf aggressivem Pressing und flottem Direktspiel. Deutschland verfügt auch im weiteren Turnierverlauf über die Möglichkeiten der Beschleunigung. Europameister wird der größte Unruhestifter. Wer nichts mehr von Tempo hören will, sollte es wenigstens genießen.