: „Fußball ist real und menschlich“
„Wenn du verlierst, dann wirst du aus deiner normalen Halterung herausgerissen. Nach dem Schlusspfiff senkt sich die Zeit auf dich herab wie der Deckel eines Sarges. Das ist die Nullzone. Darin sammelt man neue Kräfte für große Taten“ Tom Kummers fiktives Interview mit Michael Ballack
Die Protagonisten einer Fußball-EM sitzen in einem überbelichteten Aquarium, und wir schauen hinein und wüssten gern alles. Aber was können wir wirklich wissen? Alle wollen alles wissen, niemand erfährt viel. Harald Stenger, Mediendirektor beim Deutschen Fußball-Bund, sagte einmal: „Die Journalisten wissen weniger, als sie denken.“An Tom Kummers klugem, verstörend intimen, schamlos ehrlichen Interview mit dem deutschen Star Michael Ballack zeigt sich: Distanz zum Gegenstand schadet unter diesen Voraussetzungen nicht. Kummer, 45, schreibt über die EM aus Los Angeles. In seinem Interview mit Michael Ballack erfahren wir mehr über Fußball als in allen Leitartikeln, die Kicker-Chefredakteur Rainer Holzschuh jemals geschrieben hat. Dass Michael Ballack selbst nichts von diesem Interview weiß: Das wissen wir doch alle. Aber nichts ist aufklärerischer, als die Glaubwürdigkeit der Medien bei einer bewegenden Inszenierung wie einer EM zu hinterfragen.
Michael Ballack, es ist nicht das erste Mal, dass wir uns unter ungewöhnlichen Umständen begegnen. Können Sie sich noch erinnern?
Michael Ballack: Ich glaube, das war bei einer Party von David und Victoria Beckham in der Sky Bar in Los Angeles. Stimmt’s?
Sie erschienen damals extrem entspannt und fantastisch gelaunt.
Ich war aber gar nicht so gut drauf. Ich war mehr so in einer Nullzone. Wie jetzt.
Die Niederlage gegen Kroatien hat Sie in eine Nullzone befördert?
Das ist nichts wirklich Ungewöhnliches. Wenn du verlierst, dann wirst du aus deiner normalen Halterung herausgerissen. Du kannst deine Gefühle nicht mehr messen. Nach dem Schlusspfiff senkt sich die Zeit auf dich herab wie der Deckel eines Sarges, der dann auf dem Weg in die Kabine langsam vor deinen Augen zugemacht wird. Das ist die Nullzone. Und in dieser Zone sammelt man neue Kräfte für große Taten.
Sie haben damals in der Sky Bar gelächelt und sogar getanzt. Ihre Frisur war anders, kurz geschoren, wie die von Frank Lampard. Es war die Zeit zwischen dem Abgang bei den Bayern und dem Neuanfang bei Chelsea. Wieso waren Sie damals in einer Nullzone?
Ach, es war einfach eine verrückte und unerklärliche Zeit. Weg von den Bayern, und kurz vor dem Antritt in der Premier League. Ein bisschen Urlaub hatte ich schon nötig. Abhängen. L.A. ist dafür eigentlich perfekt. Die meisten Leute sind ständig gut drauf und gesund, ihre Haut ist braun oder prächtig ledergelb. Und du stößt auf Leute wie Skeet Ulrich oder Kate Spade, und du redest ganz wenig über Fußball.
Sie haben in der Sky Bar ständig gelächelt.
Weil hier alle lächeln und hysterischen Blödsinn reden. Zum Beispiel kann ich mich gut erinnern, dass mich an jenem Abend etwa vier verschiedene Mädchen fragten, was mein Lieblingslandtier sei, und weil mir der Begriff nichts sagte, konnte ich nicht mal eine Antwort erschwindeln. Die Party war wie ein Irrenhaus, voll mit Engländern, Freunde von David und Victoria, die scheinbar einen Riesenappetit nach Spaß und Chaos hatten.
Diesen Hunger kennen Sie nicht?
Nicht in solchen Dimensionen.
Welchen Dimensionen?
Hemmungsloses Vergnügen. Vielleicht ist das auch bloß eine britische Eigenart. Jedenfalls ließ man mich damals zuerst gar nicht in die Party rein, weil die Metalldetektoren vor dem Eingang ständig angingen. Dann musste ich mich durch diese Masse von Partypeople kämpfen, in die Dunkelheit, vorbei an undeutlichen Gesichtern, alle bewegten sich zusammen wie eine einzige betrunkene Masse. Leute wollten mich mit ihren Handys interviewen und fotografieren, nicht weil ich Michael Ballack bin, sondern weil sie mich mit einem Schauspieler aus einer HBO-Sendung namens „Entourage“ verwechselten. Bis ich endlich vor David und Victoria stand.
Und dann?
Ich wollte Victoria was ins Ohr sagen, mich für die Einladung bedanken und ein bisschen plaudern. Obwohl ihr Gesicht so verzerrt war, dass es kaum denkbar erschien, dass sie irgendetwas von dem verstand, was ich sagte. Neben Victoria stand ein Bodyguard, und der hatte zwei Papageien mit Namen Blinky und Scrubby auf seinen Schultern. Victoria wollte mir ständig erklären, dass Scrubby ein lallender Idiot aus dem brasilianischen Dschungel sei. Das war alles.
Mit Victoria Beckham ist das so eine Sache, Uli Hoeneß nannte sie mal den „Tod des Fußballs“. Niemand kann sie richtig leiden. Irgendwie komisch. Wie kann man berühmt sein, wenn einen keiner leiden kann? Kennen Sie dieses Gefühl?
Kenne ich. Aber mit Victoria hat das nichts zu tun. Sie redete bloß ständig von „viel zu hypernährstoffreichem Essen“ und schimpfte über das Konkurrenzgerangel unter diversen selbstzerstörerischen Hollywood-Mogulen und deren Kids, die wegen dem Butam-Schnupfen bereits in der Gruppentherapie gelandet sind. Die Szene war eher ein bisschen traurig.
Wieso? Das sollte Ihnen doch bekannt sein: Wenn das Leben materiell gesichert ist, ergibt sich die Chance, es mit Stil und Wahnsinn zu führen.
Nein, das sagt mir nichts. Das ist mir zu zynisch. Ich spüre da schon Verantwortung gegenüber der Außenwelt.
Herr Ballack, spüren Sie Verantwortung, gegen Österreich die große Leistung zu bringen?
Die spüre ich. Und es gibt sogar so was wie Angst, die mir guttut. Angst vor der Blamage. Vermischt mit der Freude am sportlichen Drama.
Das ist ein interessanter Gedanke: Freude. Meinen Sie „Freude am Spiel“? Haben Sie wirklich Freude an einem Spiel wie gegen Österreich? Nimmt der Druck nicht jede Freude?
Das Negative am Leistungsdruck muss ignoriert werden. Ich muss auch das „Große“ finden können im Leistungsdruck. Schließlich kann ich das Drama positiv beeinflussen, auch ohne Skript.
Für uns Zuschauer gibt es natürlich einen gewaltigen Unterschied zwischen einem unvergesslichen Fußballabend wie zum Beispiel dem Sieg von Holland gegen Frankreich und dem traurigen Herumgeschubse, das die deutsche Elf manchmal produziert.
Sehen Sie, wenn man nach der potenziellen Bedeutsamkeit eines Fußballspiels Ausschau hält, dann darf man im Hinterkopf nicht nach einem Skript suchen. Ein solches gibt es nicht. Ein Fußballspiel ist kein Film oder Theaterstück. Es geht allein um die Eigenart des Ereignisses selbst. Seine unvorhersehbare Dynamik.
Sie wollen uns sagen: Was eintreten wird, lässt sich nicht vorwegnehmen. Fußball ist Drama ohne Skript …
… und wir sind bloß menschliche Wesen.
Aber Sie erscheinen uns auch als Übermensch, irgendwie.
Fußball ist nicht Science-Fiction, und wir kommen nicht von einem anderen Planeten. Fußball ist real und menschlich.
Schon gut, Sie wollen mir erklären, wieso es eben auch schwache Spiele geben kann.
Genau.
Zugegeben, es ist faszinierend, dass wir Normalos es wagen, als Kritiker aufzutreten. Der große Fan betrachtet seine Idole in gewisser Weise als ihm verwandt. Anderseits fordern wir die totale Perfektion und das Übermenschliche.
Ich glaube, dass die Fans uns Fußballer als Mitmenschen betrachten. Und deren Schicksal zeigt ihnen menschliche Möglichkeiten auf, die im Prinzip auch für ihr Leben relevant sind. So werden wir als menschliche Wesen wahrgenommen, auch wenn wir dabei als Übermenschen erscheinen.
Sie müssen aber zugeben, dass man von Ihnen, auf Ihrer Spielposition, Kreativität erwarten kann. Spüren Sie diese kreative Verantwortung dem „Ereignis“ gegenüber?
Die Stärke des Kollektivs wird heute betont. Und der perfekte Mix von Qualitäten in einem Spieler: Gehorsam, Kreativität, Fügsamkeit, Leidenschaft. Und damit Dinge, die wenige Fußballer kombinieren können. Gerade in der deutschen Elf. Bei Chelsea sieht das anders aus.
Dort erscheinen Sie wie ein großer Spielmacher. Sie passen viel besser in diese Mannschaft, als viele angenommen haben. Und Ihre Augen zeigen das coole Ballack-Grinsen, das ist mir auch bei der Beckham-Party aufgefallen …
Daran erinnern Sie sich, an meine Augen?
Sie haben gegrinst. Und als Victoria Ihnen etwas sagte, ein weiterer Papageien-Witz, da haben Sie nicht gelacht, der Witz füllte einfach ihre Augen aus, und weiter war in Ihnen nichts – außer dem Ballack-Grinsen. Wie die Augen, die ein Baby macht, wenn es gekitzelt wird.
Wollen Sie wissen, was Victoria damals gesagt hat? Sie hat gesagt, sie sei überzeugt, wenn Deutsche traurig sind, wollen die nur mit Leuten zusammen sein, die auch traurig seien. Das sei der Unterschied zu den Engländern.
Was haben Sie bei Chelsea von den Engländern gelernt?
Zum Beispiel wie man mit der Nullzone umgeht, die einen in solchen Momenten heimholt. Niedergeschlagenheit ist darin ein Zustand des Geistes, der vom Körper verursacht wird. Ich habe bei Chelsea gelernt, wie man sie einfach ignoriert.
Wie geht das vor sich?
Jeder Spieler, so lautet die Chelsea-Philosophie, habe sein Ego unterzuordnen. Die Strategie des Bundestrainers ist sehr ähnlich. Moderne Manager wissen, dass ein „Jeder gegen jeden“ die Leistung der Gruppe ruinieren kann. Es entsteht die Fiktion, der „Star der Mannschaft“ oder „der Schuldige“ existieren nicht. So kann der Chef die Ganzheit der Mannschaft nach einer Niederlage wieder herstellen.
Was ist das Schlimmste am Verlieren?
Wenn die Tatsache langsam ins Bewusstsein kriecht. Auf dem Platz kämpfe ich dagegen an, aber dann schlägt es vielleicht doch ein. Auf dem Weg in die Kabine. Alles wirkt verwaschen und blass. Der Tag hört auf, sich weiter zu beschleunigen. Der Himmel sitzt fest an seinem Ort, verschwommen und regungslos.
Was wird anders gegen Österreich?
Die Einstellung. Positive Angst ist das Fundament für große Leistung. Am Tag des Spiels herrscht dann bloß noch totale Konzentration und großer Spaß. Mit Freude werden wir Österreich besiegen. Und vielleicht schauen sogar David und Victoria zu.
Das ist alles? Ernsthaft, wie haben Sie den Tag vor dem Spiel absolviert?
Am Vormittag hörte ich mir an, wie Leute Nachrichten auf meinen Anrufbeantworter sprachen. Ich glotzte ein bisschen auf mein iPhone. Dann schlürfte ich Tasse um Tasse entkoffeinierten Kräutertee, hörte irgendwas von No Doubt und zählte meine Krawatten im Kleiderschrank.
Was haben Sie an Krawatten mitgenommen?
Eine Seidensatin-Webkrawatte von Versace, eine Seidenkrawatten mit Foulard-Print und eine Seidenkrawatte von Kenzo. Als ich den Schrank öffnete, stiegen aus den Anzügen die Düfte von Tuscani, Obsession und Antaeus. Mir wurde fast schlecht. Im Zimmer bildete sich ein eigenes Aroma: ein kaltes widerwärtiges Parfüm. Ich musste raus, ging in den Fitnessraum, dann nahmen wir Mittagessen, und ich konnte kaum die Hälfte des Endiviensalats mit Karottendressing essen.
Keinen Hunger?
Ich weiß es nicht. Vielleicht ist es die Nervosität. Das gibt es immer wieder vor Spielen. Appetitlosigkeit. Später ging es ins Entspannungsbad. Ich schaute mir noch eine Sendung auf dem Discovery Channel an, das Frühlingserwachen von exotischen Pflanzen in Zeitraffer. Sonst keine besonderen Vorkommnisse. Außer dass ich den Drang verspürte, mein Gesicht im Spiegel zu studieren.
Wieso?
Es ist mir schon beim Flug in die Schweiz aufgefallen. Ich habe das Gefühl, dass meine Nase anders ist – breiter, ein bisschen flacher. Und meine Augen liegen zu eng zusammen. Ich habe dann unseren Teammasseur ganz im Vertrauen gefragt, ob ihm was an meinem Gesicht auffällt. Aber der hat nur blöd gelacht.
Ihr Kinn hat ein deutlich gezeichnetes Grübchen, war das schon immer so?
Eben nicht, das macht mich ein bisschen unruhig. Und meine Frisur ist auch anders. Es war niemals so, dass mein Haar sich leicht nach einer Seite scheiteln lässt. Irgendwas ist anders, seit wir am Lago Maggiore sind.
Vielleicht sind es Signale aus der Nullzone.
Großer Gott, das kann verdammt genau so sein, wie Sie das sagen.
Fotohinweis:Michael Ballack, 31, wechselte 2006 vom FC Bayern München zum FC Chelsea nach London. Er ist Kapitän der deutschen Fußballnationalmannschaft FOTO: REUTERS