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Archiv-Artikel

Stille Freude

Zheng Jie ist die erste Chinesin, die das Halbfinale von Wimbledon erreicht. Sie wird wohl nicht die letzte sein

WIMBLEDON taz ■ Was unterscheidet Zheng Jie, 24, von Tennisspielerinnen, die nicht aus China kommen? Auf den ersten Blick nicht allzu viel. Sie trägt Hemden, Rock und Schuhe einer nicht ganz unbekannten amerikanischen Firma, auf ihrem linken Ärmel klebt das Logo eines auch nicht ganz unbekannten deutschen Sponsors, und die dunklen Haare bindet sie zu einem Pferdeschwanz zusammen. Auch das Spiel passt ins Schema: beidhändige Rückhand, harte, platzierte Grundschläge, notfalls ein Volley, Aufschlag solide, aber nicht sensationell. Aber wenn der letzte Ball gespielt ist und sie gewonnen hat, dann sieht man einen Unterschied: kein Kniefall, kein Schrei, keine große Geste – es ist stille Freude. „So, wie die Leute in China sind“, sagt Zheng Jie und lächelt dazu.

Die Leute in China, das ist natürlich ein weites Feld; unter 1,3 Milliarden Menschen werden auch ein paar sein, die temperamentvoller sind. Wie viele davon sich mittlerweile für Tennis interessieren, ist schwer zu sagen, aber es werden offenbar täglich mehr. Der Sieg von Zheng im Viertelfinale der Championships gegen Nicole Vaidišová wurde angeblich allein in der Metropole Schanghai von 14 Millionen Menschen am Fernseher verfolgt, im ganzen Land sollen es mehr als 100 Millionen gewesen sein. Dass China auf dem Planeten Tennis in Zukunft eine Rolle spielen wird, war spätestens in jenem Moment vor sieben Jahren klar, als Peking den Zuschlag für die Olympischen Spiele bekam. Zu diesem Zeitpunkt lief bereits drei Jahre lang ein spezielles Förderprogramm des Internationalen Tennisverbandes (ITF). Vor drei Jahren wurde die Zahl der Tennisspieler in China noch mit einer Million angegeben, mittlerweile sollen es zehnmal so viele sein. Angesichts eines auf neun Jahre angelegten Tennis-Programms für Schulen, das rund 200 Millionen Kinder einbezieht, gehört nicht viel Fantasie zu der Prognose, im Jahr 2020 eine Menge mehr Chinesen in Wimbledon und auf allen Plätzen der Tenniswelt zu sehen.

Diesmal ist Zheng Jie nur dank einer Wildcard dabei. Wegen einer bei den French Open 2007 erlittenen Knöchelverletzung hatte die einstige Top-30-Spielerin sieben Monate nicht aufgeschlagen und war am Ende des Jahres auf Platz 163 abgerutscht. Nach dem Turnier, das steht jetzt schon fest, wird sie wieder in der 40er-Region der Rangliste zu finden sein. Dass sie die Chance der Wildcard vom All England Club bekam, hat damit zu tun, dass sie quasi schon zur Historie des Turniers gehört als Siegerin im Doppel mit Partnerin Yan Zi anno 2006.

Aber im Einzel eröffnet Zheng Jie nun die nächste Dimension. Zwei Jahre nachdem die Kollegin Li Na als Erste ihres Landes in Wimbledons Viertelfinale gelandet war, ist sie die Erste im Halbfinale. Nach dem Sieg in der dritten Runde gegen die neue Nummer eins des Frauentennis, Ana Ivanović, bedankte sie sich ausdrücklich bei ihrem Ehemann und Coach, der sie davon überzeugt hatte, ein besserer Aufschlag könne nicht schaden. Der dürfte auch eine Hilfe heute im Halbfinale gegen Serena Williams sein (im zweiten werden sich Venus Williams und Jelena Dementjewa gegenüberstehen). Als die beiden vor vier Jahren an der gleichen Stelle in der ersten Runde gegeneinander spielten, da hatte Serena bereits zwei Wimbledontitel in der Tasche, Zheng Jie war eine Exotin. Diesmal gibt es nicht wenige, die sich vorstellen können, sie habe eine gute Chance, die große Williams zu besiegen. Sollte es ihr gelingen, dann hätten viele was davon. Sie selbst, die Familie, das Land und auch die Menschen in ihrer Anfang Mai von einem Erdbeben verwüsteten Heimat in der Provinz Sechuan. Jenen Teil des Preisgeldes, über den sie verfügen kann – den Rest kassiert der chinesische Verband –, will sie für die Bebenopfer zur Verfügung stellen. Ein Grund mehr, der stillen Zheng Jie alles Gute zu wünschen. DORIS HENKEL