„Der Zwang wird nicht als Tragödie empfunden“

Bremen ist aufgrund der Forschungsstelle Osteuropa an der Uni für osteuropäische Bürgerrechtler immer eine Reise wert. Derzeit ist Ludmilla Alexejewa, die 81-jährige Vorsitzende des Moskauer Helsinki-Komitees für Menschenrechte, in der Stadt. Die Forschungsstelle lädt zur Debatte mit ihr am 8.7., 19 Uhr

Ludmilla Alexejewa ist 1927 auf der Halbinsel Krim geboren. Sie studierte bis 1950 an der Historischen Fakultät der Universität Moskau. 1952 wurde sie KPdSU-Mitglied. Ihre Wohnung war Treffpunkt von Moskauer Intellektuellen. Seit 1960 als Menschenrechtsaktivistin öffentlich engagiert. 1974 erhielt sie eine offizielle Warnung wegen „Verbreitung antisowjetischer Schriften“. 1976 wurde sie Mitglied der Moskauer Helsinki-Gruppe, ihre Wohnung wurde zum Büro und Archiv der Gruppe. Für einige Jahre wurde sie zur Emigration gezwungen, in den USA schrieb sie Geschichte der Andersdenkenden in der UdSSR („Soviet Dissent – Contemporary Movements for National, Religious, and Human Rights“, Middletown Connecticut 1987). 1993 kam sie zurück nach Moskau und wurde zur Vorsitzenden der Moskauer Helsinki-Gruppe gewählt.

Interview Klaus Wolschner

taz: Frau Alexejewa, Sie sind Vorsitzende der Helsinki-Gruppe für Menschenrechte und 1927 geboren ?

Ludmilla Alexejewa: Ich hätte gern angegeben, dass ich 20 bin, aber leider haben Sie es schon erfahren, dass ich etwas älter bin.

Sind Sie so etwas wie die Seniorin in den Menschenrechtskreisen in Russland?

Es gibt zwei, drei, die älter sind, das sind aber Männer. Aber ich bin zu einem Museumsstück geworden in Moskau und für alle, die sich interessieren für Samisdat, ist es ein Muss, mich zu besuchen.

Wenn sie 1927 geboren sind, dann haben Sie Stalin persönlich noch erlebt.

Ich kann nicht sagen, dass ich mit ihm Tee getrunken habe, ich war 25 Jahre alt, als er im Jenseits auf die anderen gestoßen ist. Lebend habe ich ihn einmal gesehen, das war während der 1. Mai-Demonstration. Mein Vater hatte mich mitgenommen, ich war vielleicht elf Jahre alt. Alle haben damals an diesen Demonstrationen teilgenommen. Wir müssen ihm sehr nahe gewesen sein, denn ich erinnere mich, dass ich gesehen habe, dass er unreine Haut hatte. Alle haben wie verrückt geschrien: „Es lebe Genosse Stalin“, ich habe mitgeschrien. Als wir weggegangen waren, ist mir aufgefallen, dass mein Vater nicht mitgeschrien hatte.

Haben Sie ihn danach gefragt?

Das war nicht die Zeit, dass Eltern mit den Kindern über so etwas gesprochen haben. Der Terror war sehr stark, alle haben sich wie Schnecken verhalten. Meine Eltern haben mit mir nie darüber gesprochen.

Haben die Menschen damals Stalin anders geliebt als sie heute Putin lieben?

Sogar für einen Idioten ist es unmöglich, zweimal in dasselbe Wasser zu tapsen. Die Russen lieben Putin nicht, jedenfalls nicht alle, das ist eine Erfindung der Medien. Wenn wir auf einer Pressekonferenz Putins Politik kritisieren, dann kann ich sagen, was ich denke. Aber wenn ich dann den Bericht in der Zeitung lese, dann steht da nichts von dem, was ich gesagt habe. Ich weiß aber, dass Putin gern deutsche Zeitungen liest. Er weiß daher, dass ich ihn kritisiere. Deswegen rede ich gern mit ausländischen Journalisten. Aber 1941, als der Krieg begann, da war ich 14 und ich habe wie alle anderen gedacht.

Haben Sie damals die Deutschen kennen gelernt?

Nicht direkt, ich lebte in Moskau. Aber einmal habe ich eine Kolonne mit Kriegsgefangenen gesehen, das war schon 1947. Das sah furchtbar aus, ein Mitleid erregendes Bild. Sie haben sich gegenseitig gestützt, die einen hatten verletzte Beine, die anderen Verletzungen am Kopf. Viele haben gerufen: „Recht so, sie haben das verdient“. Ich hatte Mitleid, weil sie Mitleid erregend waren. Später habe ich mich geschämt, weil alle diese Deutschen hassten, nur ich nicht. Vielleicht hatte einer von diesen Männern meinen Vater erschossen. Und ich hatte Mitleid und habe mich gleichzeitig geärgert, dass ich, im Unterschied zu den anderen, Mitleid hatte.

Warum sind Sie 1952 in die Kommunistische Partei eingetreten?

Als Studentin habe ich angefangen darüber nachzudenken, wie ungerecht bei uns das Leben zu den einfachen Menschen ist. Aber unter Stalin war es nicht möglich, mit anderen über Zweifel an dem Regime zu sprechen. Ich habe darüber nur mit meinem Ehemann gesprochen und mit meinem Onkel. Der war sehr antisowjetisch. Er hat immer gesagt: Im Kreml sitzen die Banditen. Ich habe zum Beispiel gefragt, als es die Kampagne gegen Kosmopolitismus gab, also gegen Juden: Wie kann das sein, dass Kommunisten, die für den Internationalismus sind, gleichzeitig gegen Kosmopoliten, also gegen Juden sind? Wie geht das? Ich war damals im ersten Semester. Da hat er gesagt: Internationalismus und Kosmopolitismus ist etwas für die gelehrten Dummköpfe wie du es bist. In der Realität sitzen da oben nur Banditen. Meinem Mann habe ich damals gesagt: Mein Onkel denkt sehr primitiv.

Als ich im achten Semester war, da stand ich auf dem Standpunkt, die Revolution 1917 war gut, aber irgendwann sind wir vom richtigen Weg abgekommen. Das bedeutete: Die Partei heißt nur kommunistisch, da sitzen Karrieristen. Ich wollte die Partei verbessern, deshalb bin ich mit 25 Jahren ich in die Partei eingetreten. Das war damals die düsterste Zeit überhaupt für Russland. Ich wollte die Geschichte der KPdSU studieren, um zu verstehen, was mit unserem Land geschehen ist. Damals gab es kein Samisdat, keine kritische Literatur, also habe ich Lenins Gesammelte Werke gelesen.

Alle Bände?

35 Bände, die bei meinen Eltern im Regal herumstanden. Als ich in den Jahren 1917 und 1918 angekommen war, hatte ich alles verstanden: Lenin hatte damals in verschiedenen Reden und Artikeln dafür geworben, das Programm der Sozialrevolutionäre zu übernehmen. Das war das Programm der Bauern, die das Land der adeligen Großeigentümer unter sich verteilen wollten. Russland ist ein Bauernland, sagte Lenin. Immer wieder dasselbe. Er wurde gefragt: Warum das? Wir wollen doch Kollektiveigentum, nicht Privateigentum. Er hat immer geantwortet: Das ist egal. Wir brauchen zuerst die Macht und dann machen wir was wir wollen. Da habe ich verstanden: Sie sind mit einem Betrug an die Macht gekommen. Sie haben die Mehrheit der Bevölkerung betrogen. Mein Onkel hatte Recht, sie sind Banditen. Das war ein Jahr nachdem ich Mitglied der Partei geworden war.

Sie sind nicht ausgetreten aus der KP, sondern erst 1968 ausgeschlossen worden.

Man konnte nicht austreten. Man konnte nur darum bitten, ausgeschlossen zu werden. Ich hätte die Arbeit verloren und die ganze Familie hätte mit Schikanen rechnen müssen. Mein Mann war Offizier. Ich konnte nicht auf die Idee kommen. Aber ich habe aufgehört, aktiv zu sein.

Und was war dann 1968?

Das war nicht die erste Durchsuchung. Die KGB-Leute haben mein Parteibuch entdeckt und sich gewundert. Sie haben es mitgenommen. Ich war vorher aus der Partei ausgeschlossen worden, weil ich den Brief zur Verteidigung von Alexander Ginzburg unterschrieben hatte. Allerdings hatten sie mich nicht zu der Sitzung eingeladen – sie wussten, dass ich eine Rede halten würde. Davor hatten sie Angst, deswegen war ich nicht über die Sitzung informiert und sie konnten mein Parteibuch nicht einfordern.

Ginzburg hatte 1959 als 23-jähriger Student begonnen, Gedichte zu verbreiten. Das war illegal, der Beginn der Samisdat-Zeitschrift „Sintaksis“. 1960 wurde er von der Uni ausgeschlossen und zu mehreren Jahren Arbeitslager verurteilt.

Die Proklamation der Menschenrechte setzt die Idee eines menschlichen Naturzustands völliger Freiheit und Gleichheit voraus. Dieser Gedanke war der sowjetischen Auffassung von Staat, Partei und Recht fremd. „Sozialistische Gesetzlichkeit“ bezog sich auf ein dem Individuum übergeordnetes Kollektiv, die Klasse, und deswegen galt das sowjetische Recht als das gerechteste der Welt. Offiziell hat die Sowjetunion die Menschenrechte respektiert. Wer ihre Verletzung im eigenen Lande denunzierte, wurde aber wegen antisowjetischer Agitation und Propaganda strafrechtlich verfolgt. Eine beträchtliche Veränderung im Bewusstsein der Öffentlichkeit gegenüber Rechtsbrüchen in der Zeit Stalins setzte bereits während des von Chruschtschow eingeleiteten Tauwetters ein. Die Befreiung der Gefangenen aus dem Gulag durch die Amnestie vom 28. März 1953 und Berichte über die Lager öffneten vielen die Augen. Chruschtschows Bericht auf dem XX. Parteitag (1956), „Über den Personenkult und seine Folgen“, gab zwar nicht ausreichend darüber Auskunft, wie das alles geschehen konnte, dennoch wurde die offizielle Lüge anerkannt. Andrei Sacharow, Atomphysiker und Mitglied der hochangesehenen Sowjetischen Akademie der Wissenschaften, beschrieb in seinen Memoiren eindrücklich, wie er 1957/58 aus der Abgeschiedenheit seines wissenschaftlichen Forschungslabors den Weg zu jenen fand, die sich– erstmals in der Geschichte der sowjetischen Gesellschaft– konkret für die Verteidigung der Rechte von Individuen einsetzten. Der Begriff Menschenrechte tauchte erst in den sechziger Jahren mit den ersten Dissidenten auf. Die Verurteilung der Schriftsteller Andrei Sinjawski und Juli Daniel im Februar 1966 zu sieben und fünf Jahren Arbeitslager wirkte als Katalysator. Eine Welle von Protestaktionen folgte, und erstmals wurden Petitionen gegen die Verletzung des Rechts auf öffentliche Gerichtsverhandlungen an die höchsten Instanzen der Sowjetmacht sowie an internationale Organisationen wie die Uno gesandt. Gefordert wurden öffentliche Prozesse und öffentliche Urteilsverkündungen. Ab 1968 nahmen die Proteste zu, angeregt und ermutigt durch den „Prager Frühling“. Mit der Perestroika hat sich die sowjetische Haltung gegenüber den Menschenrechten auf geradezu spektakuläre Weise verändert. Michail Gorbatschew versprach 1986 die Transformation vom politischen Klassenrecht zu einer Rechtsauffassung, die die Universalität der Menschenrechte anerkennt.

Später noch einmal. Zwei Tage vor seiner Verhaftung 1966 war Ginzburg zu mir gekommen und hat mir das zweite Exemplar seines Buches gebracht. Das erste war im Ausland. Ich sollte es verstecken, er sagte, ich sei Mitglied der Partei, noch nicht erfasst. Ich habe einen Sessel von unten aufgeschlitzt und es eingenäht. Nach seiner Verhaftung habe ich den Brief zu seiner Unterstützung unterschrieben, dann ging es los, ich wurde aus meiner Arbeit rausgeschmissen, aus der Partei und so weiter. Zwei Durchsuchungen hat das Manuskript da überstanden, dann habe ich es verbreitet im Samisdat.

Einige Jahre später, 1968, gab es die Reformbewegung in der Tschechoslowakei, den Prager Frühling. War das für Sie in Moskau wichtig?

Klar. Wir haben das alles mit großen Hoffnungen beobachtet. Ich war absolut sozialistisch eingestellt, und den Slogan von Alexander Dubcek, „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ – das fand ich gut. Ein paar Jahre vorher war ein guter Freund von mir verhaftet worden. Viele sind verhaftet worden. Wir haben nicht gedacht, dass wir eine Bewegung sind, wir haben nur unsere Freunde verteidigt und ihre Frauen und Familien unterstützt. Wir haben illegale Samisdat-Literatur gelesen und Radio Liberty gehört. Wir standen vor dem Gericht während der Prozesse. Es war ganz anders als in der Stalin-Zeit, auch wenn Ginzburg zu fünf Jahren Lager verurteilt wurde.

Erst die späteren Ereignisse haben uns gezeigt, dass das sowjetische System unreformierbar ist. Wir haben damals nicht mehr daran geglaubt, dass wir noch den Zusammenbruch der Sowjetunion erleben werden. Als Andrei Almarik das Buch geschrieben hat: „Wird die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?“, da habe ich nur gelacht. Ich habe kurz vor seinem Tod mit ihm gesprochen, 1980, und zu ihm gesagt: Nur noch vier Jahre sind bis 1984 ? Er hat dann geantwortet, vielleicht dauert es 15 Jahre länger. Aber er hatte Recht, es ging 1985 mit den Veränderungen los.

Warum lassen sich die Russen das Putin-Regime gefallen?

Ich kann natürlich meine Landsleute lange beschimpfen, aber sie sind nicht schlechter als die anderen Völker. Die Grünen in Deutschland sind vielleicht die einzigen, die sich für die Menschenrechte in Russland interessieren. In unserer Geschichte gab es keine längere Periode, in denen es keinen großen Druck gab auf die Bevölkerung. Das hat Richard Pipes sehr plastisch dargestellt. Das hat die Mentalität geprägt. Die meisten von meinen Landsleuten sind Produkt vieler Generationen, die in einem Imperium gelebt haben. Ein Imperium ist ein Staat, der auf Zwang aufgebaut ist. Der Zwang von oben wird in Russland nicht als Tragödie empfunden, die Leute sagen: So ist es nun mal. Aber es gibt auch eine Tradition der russischen Intelligenz, in der es seit 200 Jahren das Bestreben nach Freiheit gibt. In einem Land, in dem es keine Demokratie gibt, erfordern solche Traditionen sehr viel Mut und Opferbereitschaft. Das gibt es genauso wie die Bereitschaft, unter Zwang zu leben. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist diese Gruppe zum ersten Mal in unserer Geschichte gewachsen. Heute sind es nicht nur die Intellektuellen, die Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat haben wollen, sondern auch die vielen Leute, die Privateigentum haben. Sogar die sagen: Wenn es bei uns nicht wie im Westen wird, dann werden wir bald zur Dritten Welt gehören. Das erfüllt mich mit großem Optimismus. Sie sollten hören, was diese Leute, die keineswegs zur Intelligenz gehören, über Putin sagen!

Was?

Das sage ich hier lieber nicht, weil Putin das auch liest.

Übersetzung: Dr. Galina Michaleva