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Archiv-Artikel

Lebenslüge der Väter

Tom Segev entzaubert Israels Mythos von den selbstlosen Pionieren und Staatsgründern

VON ROBERT MISIK

Staaten entstehen nicht so einfach. Um einen Staat buchstäblich aus dem Nichts aus dem Boden zu stampfen, braucht es eine Idee, die die Leidenschaften beflügelt – und einen Gründungsmythos.

Davon zeugt auch die Entstehung des Staates Israel. Und wie umstritten die historische Bilanz des jüdischen Staates auch immer sein mag, eines scheint doch Konsens: Die Gründung war ein heroischer Akt selbstloser Pioniere, die die Wüste urbar gemacht haben. Trotz aller Entbehrungen schufen sie mit viel Idealismus den Juden einen Staat und sahen sich, kaum war die Unabhängigkeit ausgerufen, in einen Überlebenskampf gegen eine übermächtige arabische Koalition verwickelt. Das ist in etwa die Urszene, schreibt Tom Segev in seinem Buch „Die ersten Israelis“. So habe man es in der Schule gelernt: „Wir waren die Guten, die Araber waren die Schlechten.“

Als Segevs Buch 1986 in Israel erschien, löste es heftige Kontroversen aus, eine Art Historikerstreit, der mit dem Auftreten einer ganzen Kohorte jüngerer Geschichtsforscher – bald „New Historians“ genannt – an Heftigkeit noch gewann. Es war wie immer und überall: Man kritisierte die Lebenslügen der Väter und Großväter. Jetzt ist Segevs Buch mit zwanzig Jahren Verspätung auf Deutsch erschienen. Brisant und verstörend ist es immer noch.

Segev, der bis dahin unbekannte Akten sichten und auch die privaten Aufzeichnungen des Staatsgründers David Ben-Gurion einsehen konnte, zeichnet ein ernüchterndes Bild von den ersten Israelis. Beim „Unabhängigkeitskrieg“ ging es ziemlich schnell darum, sich mehr Land zusammenzuverteidigen. „Jetzt geht es um Eroberung, nicht mehr um Selbstverteidigung“ (Ben-Gurion). Der Krieg war nicht erwünscht, als er aber ausgebrochen war, wollte man all seine Vorteile nutzen. Dass die arabischen Palästinenser flohen, wurde gerne gesehen. Wer nicht von selbst ging, bei dem wurde nachgeholfen. Es kam zu dem, was man heute „ethnische Säuberung“ nennt. Die Regierung veranlasste die Morde und Plünderungen nicht, tatsächlich zeigte man sich erschüttert von den Gräueltaten, aber man arrangierte sich gerne mit ihren Resultaten. Man wandte viel Grips auf, um die palästinensischen Flüchtlinge an einer Rückkehr zu hindern, und verteilte ihren Besitz. Besser: Man wollte ihn verteilen. Tatsächlich stahlen viele, was sie konnten: Häuser, Teppiche, Firmen. Dem Staat blieb zum Verteilen eher weniger.

Gleichzeitig strömten hunderttausende Juden aus aller Welt nach Israel: Opfer des Holocaust, junge osteuropäische Juden, Juden aus Marokko, Algerien, dem Jemen. Dem Ansturm war der junge Staat nicht gewachsen. Unter unerträglichen Bedingungen vegetierten die Ankömmlinge in Lagern.

Aber Segev, Historiker und Journalist von Beruf, beschreibt nicht nur diese verdrängte Geschichte, er schildert auch auf fesselnde Weise die politische Kultur des jungen Staates und das Ringen um seine Identität. Den „sozialistischen“ Charakter mit seinem Kibbuzmythos, die Dominanz der gemäßigt linken Mapai-Partei, aber auch die staatsdirigistische Günstlingswirtschaft. Fast grotesk nimmt sich aus heutiger Sicht die bürokratische Liebe zu Rationierung und Warenzuteilung aus – die zu Schwarzmärkten und Schattenwirtschaft führten. Packend sind die Passagen, in denen Segev die ersten Angriffe der Religiösen auf den säkularen Charakter des Staates beschreibt.

Wie immer, wenn historische Mythen demontiert werden, beschreibt der Autor die verdrängte Geschichte: das, was weggeschwiegen wird. Notgedrungen ergibt sich daraus ein düsteres Bild. Man fragt sich nach der Lektüre ein wenig: War denn gar nichts gut? Natürlich gab es Pioniergeist und Heldentum, aber der „Alltag der ersten Israelis war weniger stark davon geprägt, als sie erträumt hatten“, resümiert Segev – und auch weniger, als eine verklärende Heldengeschichte glauben machen will.

Viele Probleme, die in den Jahren 1948 bis 1953 ungelöst blieben, haben seitdem noch an Brisanz gewonnen. Wie kann Israel demokratisch und ein jüdischer Staat bleiben mit einer wachsenden arabischen Minderheit im Land? Wie schafft man Frieden, wenn man auf das Diktat des Stärkeren vertraut? Wie ist das Verhältnis von säkularen Institutionen und Religion im „jüdischen Staat“?

Segevs Fazit dazu ist knapp: Israel sei ein Experiment, „das noch nicht gelungen und auch noch nicht gescheitert ist“.

Tom Segev: „Die ersten Israelis. Die Anfänge des jüdischen Staates“. Aus dem Englischen von Helmut Dierlamm und Hans Freundl. Siedler, München 2008, 414 Seiten, 24,95 Euro