Bratwurst, Bier und trübe Mienen

Bloß nicht nerven will die SPD vor der Wiederholungswahl im Eckernfeld. Bürger in Wut Jan Timke zeigt mehr Enthusiasmus: Im Ortsteil wohnen auch ein paar Rentner, die in den Reichstag scheißen wollen – und ihn Sonntag gewiss in die Bremische Bürgerschaft schicken

Wolfgang Jägers zückt ein Flugblatt. „Wir wollen die Bürger nicht nerven“, sagt er. Es klappert. Der Briefkasten fällt zu

aus dem Eckernfeld BENNO SCHIRRMEISTER

In der Krise schlägt die Stunde traditioneller Mittel. Bratwurst satt und Freibier gibt’s beim SPD-Sommerfest vorm Freizeittreff Eckernfeld, drei Kinder hüpfen auf einer Hopsburg von der Größe eines Reihenhäuschens, rote Ballons schweben über der Szene und zahlreich ist die Prominenz. Der Vorsitzende des Unterbezirks Bremerhaven ist da. Der Wirtschaftssenator grüßt freundlich ins Rund. Sogar Jens Böhrnsen ist gekommen, der Landesvater, vertieft ins herzliche Gespräch mit dem Abgeordneten Wolfgang Jägers, der unfroh blickt. Sein Mandat steht auf dem Spiel.

„Ich würde das nicht als Wahlkampftermin bezeichnen“, sagt Böhrnsen beim Händedruck, der auffällig schlaff ist. „Das ist einfach ein Sommerfest.“ Im Ortsteil Eckernfeld, wo es noch nie ein Sommerfest der SPD gab. Und wo am Sonntag die Wahl zur Bürgerschaft wiederholt wird, ein Jahr nach dem Termin. Die Sozialdemokraten werden dabei einen Sitz verlieren. Wenn nicht ein Wunder geschieht, etwas ganz Kurioses.

So, wie diese Wiederholungswahl. „Man müsste eigentlich drüber lachen“, sagt Martin Günthner, stellvertretender Fraktionsvorsitzender, zieht die Brauen hoch, schaut bedenklich, bietet eine Wurst an, herzlichen Dank, aber in der SPD lacht man nicht über diese Wiederholungswahl, die wirklich ein Witz ist. Er setzt sich zusammen aus zwei Anekdoten vom Wahlabend Anfang Mai 2007. Die erste: Das für die Wählervereinigung „Bürger in Wut“ ermittelte Ergebnis beträgt 4,9981956 Prozent. Eine Stimme entspricht an jenem Tag 0,0022555034 Prozent. Eine mehr – und ihr Spitzenkandidat Jan Timke hätte ein Mandat gehabt. Lustig.

Die zweite wird erst im Zuge der Beweisaufnahme publik: Im Wahllokal Eckernfeld waren 774 Wähler erschienen. Aber beim ersten Auszählen kommen die Helfer nur auf 761 Stimmzettel. Beim zweiten – auch. Das sind 13 zu wenig. Der Computer nimmt das Ergebnis nicht an. Die Nerven flattern. Noch einmal zählen? Der Druck wächst. Schließlich packt die Wahlvorsteherin die Unterlagen in ihren Rucksack, schwingt sich aufs Rad und fährt zum Wahlleiter ins Stadthaus, zum Nachzählen. Drei Kilometer durch die Maiennacht. Allein. Ohne Zeugen.

„Durch den Ausfall wesentlicher Elemente der Verfahrenskontrolle“, stellt der Bremer Staatsgerichtshof ein Jahr später fest, seien „Möglichkeiten von Zählfehlern und auch der Manipulation“ entstanden. Er erklärt die Bürgerschaftswahl für ungültig. Aber nur im Eckernfeld.

Ein glücklicher Moment für Timke: Vor fünf Jahren, damals noch Landes-Chef der Schill-Partei, hatte er an selber Stelle in einem ähnlichen Verfahren eine klare Niederlage erlitten. Diesmal kann der Wutbürger, im wahren Leben Bundespolizist am Berliner Ostbahnhof, strahlend erklären, das Wichtigste sei, „dass die Bürger eine ordentliche Wahl bekommen“, nur darum sei es ihm gegangen. Und natürlich nicht um seinen Sitz in der Bürgerschaft.

Im Freizeittreff ist es ruhig. Der Raum ist an zwei Seiten verglast, Transparentpapier-Sterne und ein dürftiger Benjamini auf dem Fensterbord, an den Wänden Kinderzeichnungen. Das Wahllokal wird wieder hier sein, man ist ja nicht abergläubisch, aber die Wahlhelfer „sind handverlesen“, sagt Renate Hunter, Wahlamtsleiterin, und nein, die Wahlvorsteherin vom letzten Mal darf die Scharte nicht ausbügeln. „Man sagt ja immer, es gibt für alles eine zweite Chance“, so Hunter, „aber das gilt hier nicht“. Sie ist auch zum Sommerfest der SPD gekommen, privat, antwortet jetzt aber doch auf dienstliche Fragen. Die Wiederholungswahl wird also rund 5.000 Euro kosten. Damit wissen wir das also auch.

Draußen, an einer Bierbank sitzt Böhrnsen. Seine Gestik ist sparsam, seine Miene freundlich. Er plaudert mit den Genossinnen und Genossen. Vielleicht ist auch ein Anwohner ohne Parteibuch dabei. Jägers steht etwas Abseits. Ein paar Journalisten wollen etwas von ihm hören. Sein Bart ist leicht struppig, am Revers trägt er eine DGB-Nadel, Jägers ist Regional-Chef der IG BAU. Einer, der bei Mitgliederversammlungen starke Worte findet und auf Baustellen alle Hände schüttelt. Heute sagt er: „Ich weiß, dass sich die Erde nach dem 6. Juli weiterdreht“, kratzt sich mit der linken Hand am rechten Ohr, „und zwar in dieselbe Richtung“. Vorher wird er noch Flugblätter verteilen, das ja. Aber selbst in der letzten Woche werde man keine Plakate aufhängen und auch keinen Info-Stand machen. „Wir wollen die Leute nicht nerven“, sagt Jägers.

Mit dem Wetter hat die SPD Glück. Am Vormittag hatte es geschifft wie nichts Gutes. Jetzt strahlt der Himmel blau, Vögel zwitschern und die Wurst auf dem Grill entwickelt Geruch.

Der Einzugsbereich des Wahllokals umfasst 28 Straßen, benannt nach Renaissance-Gelehrten, Physikern des 19. Jahrhunderts und Bundespräsidenten-Gattinnen. Knapp 1.300 Wahlberechtigte leben im Eckernfeld. Sie können am 6. Juli ihre Stimme sehr strategisch vergeben: Bei gleicher Beteiligung wie im Vorjahr braucht Timke 34. Damals verteilten sich 78 Stimmen aufs Spektrum rechts der CDU. Eine Summe, gegen die Jägers sein Mandat nicht verteidigen könnte. Nicht einmal bei 100 Prozent Wahlbeteiligung, die ja selbst schon ein Wunder wäre. Juristisch bedenklich ist das nicht. Klar, die Eckernfelder können gezielter abstimmen: Für Jägers. Oder für Timke. Aber der Wissensvorsprung „ist bei Wiederholungswahlen nun mal unvermeidlich“, sagt der Osnabrücker Staatsrechtslehrer Jörn Ipsen, und unproblematisch, solange nicht das Gesamtergebnis verfälscht werde. „Die Gefahr sehe ich hier nicht“, so der Wahlrechtsexperte. Die Möglichkeit, Fehler zu korrigieren, müsse es geben. Und „man kann dafür schließlich nicht im ganzen Land neu wählen lassen“.

Timke hat kein Glück mit dem Wetter. Am Freitagvormittag war er in den Regen gekommen, am Montagvormittag ist er wieder auf der Straße, es wird allmählich heiß, aber die dunkelblaue Anzugsjacke legt er nicht ab. Er öffnet die Gartentür, ordentlich verlegt die Steinplatten, rechts der Rasen frisch rasiert, zwei Stufen hoch, überm Eingang weht ein Deutschlandfähnchen. Timke schaut nach dem Namen, bevor er die Klingel drückt, horcht ins Innere, ja, es tut sich was, macht zwei Schritte rückwärts, der rechte Fuß bleibt auf dem Treppenabsatz, so steht er da, blickt auf. Lächeln! Nur der Musterkoffer fehlt.

Timke hat schon zwei Briefe an alle Haushalte geschickt. In dem einen verspricht er, sich für den Tierschutz einzusetzen. Im anderen hat er beteuert, seine Landtagskandidatur nicht erschlichen zu haben. Das hatte ihm Martin Günthner vorgeworfen, als die Staatsanwaltschaft Anklage gegen Timke erhob. Ihren Ermittlungen zufolge hatte der Streiter für eine „Renaissance konservativer Werte und bürgerlicher Tugenden“ seinen ersten Wohnsitz in Berlin, nicht in Bremerhaven. Wahlbetrug heißt das Delikt. Mal sehen, was das Amtsgericht sagt.

Aus dem Melderegister hat man ihn von Amts wegen gestrichen, das will Timke rückgängig machen lassen, durchs Verwaltungsgericht. In Sachen Günthner hat er einen Berliner Rechtsanwalt eingeschaltet. Die Fraktion aber hat Schutzschriften hinterlegt, beim Landgericht Bremen, beim Landgericht Hamburg, und in Berlin. Eine einstweilige Verfügung hat es nicht gegeben, die Pressemitteilung ist noch immer online. „Dass der Wahlbetrüger Timke wählbar bleibt, ist bitter“, heißt es darin.

Es hat nicht gezündet. Nicht bei dem Herrn, der jetzt die Türe öffnet, ein wenig überrascht den jungen Mann vor seiner Schwelle mustert: dunkle Kräusellocken, glattes Kinn, schlank, durchtrainiert und elegant gewandet, der ihn höflich grüßt, ihn mit Namen anspricht. „Ich heiße Jan Timke“, stellt er sich jetzt vor. „Wir haben ja für Sie diese Wahlwiederholung erkämpft“, Timke ballt die rechte Faust, „das ist ein Grundrecht“.

Der Anwohner sagt, er habe Timke erkannt. Und er werde ihn wählen. „Aus Protest“, wogegen bleibt unklar. Beim Nachbarn von gegenüber liegen die Dinge ähnlich. „Wir haben hier eine widerliche Politik“ vertraut er Timke an und schildert einen geheimen Plan. Er und einige aus der Siedlung würden, behauptet er, nach Berlin fahren, „in den Reichstag, und da schlucken wir dann alle eine Flasche Rhizinus-Öl“, so malt er sich das aus, „und dann…“. Timke muss kaum etwas sagen, gar nichts versprechen. Er hört nur zu. Hier interveniert er aber doch. „Besser wäre es“, sagt er, „Sie wählen am Sonntag uns.“

Jägers Kontakt ist nicht so intensiv. Mitte Mai hatte er noch angekündigt, auch in den Häuserkampf zu ziehen, „um deutlich zu machen, wofür ich stehe“. Er hat sich dann aber doch nur am Montagabend mit Fraktions- und ParteigenossInnen verabredet, am Freizeittreff, wo sonst. Er gibt Päckchen mit Flugblättern aus. Auf kopierten Ortsteil-Karten sind Straßenzüge neongelb markiert. Es ist alles bestens organisiert. „Wer mit seinen Straßen fertig ist, fährt nach Hause.“ Jägers zieht als letzter los. Eilige Schritte. Erster Eingang. Drei Etagen, ein Mehrfamilienhaus. Jägers greift in seinen Karton. Er klappt den Briefkasten auf. Er wirft den Zettel in den Schlitz. Sie klingeln nicht? „Nein“, wiederholt Jägers, „wir wollen die Bürger nicht nerven.“ Es klappert. Der Briefkastendeckel fällt zu.

Es gibt Bürger, die genervt sind von Timke, ganz klar. Die alte Dame, die öffnet, ihn sieht, die Hände überm Kopf zusammenschlägt, schließt die Türe noch bevor Timke hat sagen können, dass er Timke heißt. Sie erhält auch kein Wahlkampf-Gimmick: Kein Flugblatt. Und kein Schreibset. Notiert wird sie aber doch: Timkes Kompagnon heißt Torsten Groß, ist auch Polizist, in Duisburg, ein Kommissar.

Groß zückt seine Kladde und beugt sich vor, wobei seine Glatze im Sonnenlicht aufblitzt. Er notiert die Hausnummer, schreibt den Namen auf und eine kurze Bemerkung dahinter. „Im Grunde“, stellt er, mit Blick aufs Protokoll, fest „hätten wir schon genug.“ Timke hat er bei einem Lehrgang kennengelernt. Im Eckernfeld macht er für ihn den Chauffeur. Wenn Groß den silbrigen S-Klasse über die leicht holprige Straße gleiten lässt, entgeht seinem Auge keine Ordnungswidrigkeit. Ein Reifen auf der Fahrbahn? Groß stoppt, steigt aus, wirft das Hindernis an den Rand. Ein Plakat zerfetzt? Es wird eingesammelt. Am Wochenende seien alle acht Timke-Poster runtergerissen worden, in der Nacht, sagt Groß, und in der Mitte durchgerissen, „das war nicht der Wind.“ Er erwägt, sich auf die Lauer zu legen. „Einen schnapp’ ich mir“, verspricht er, ganz Bürger in Wut, „Observation ist meine Spezialität.“