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Archiv-Artikel

Nimm dein Bett und wandle

Mit Mann, Kind und Kegel zum Wochenend-Camping: Eine Annäherung an mobile Wahlheimaten. Im Selbstversuch

VON JULIA NIEMANN

Seit Tagen waren es in der Stadt über dreißig Grad – die Hitze flimmert über dem Asphalt und die Kleider kleben am Leib. Selbst in den eigenen vier Wänden ist es wie in einer Schwitzhütte. Zeit für eine kleine Flucht, Zeit für einen Campingausflug!

In Brandenburg gibt es fast 3.000 Seen, an einem davon werden wir unser Zelt aufschlagen. Aber zunächst wird erst einmal eingepackt: Kochgeschirr, Essgeschirr, Besteck, Dosenöffner, Flaschenöffner, Proviant, Wäscheleine, Spielzeug, Campingtisch und -stühle, Sonnensegel, Gummiboot, Paddel, Blasebalg, Taucherbrille, Angel, Badezeug, Duschzeug, Mückenschutz, Pflaster, Fotoapparat: Das Auto ist bis zum Rand gefüllt, und wir haben für eine Nacht auf dem Campingplatz mehr dabei als für vierzehn Tage Kanaren, buchstäblich einen ganzen Hausstand. Dafür sind wir aber schneller da, nach knapp einer Stunde stehen wir vor der Schranke zum Campingplatz – die sich die nächsten eineinhalb Stunden nicht öffnen wird, denn zwischen 13 und 15 Uhr ist Mittagsruhe.

Eine eiserne Regel auf diesem Campingplatz, und Vorschriften gibt es so einige – davon zeugen die vielen Verbotsschilder, die sich mehr oder weniger unauffällig in die Campingdorf-Idylle einfügen. Irgendwie will das Miteinander bei 120 Dauercampern, 100 Touristen und weiteren 60 zu vermietenden Bungalows auf engem Raum ja geregelt sein. Und nicht nur die Camper untereinander müssen miteinander auskommen, sie müssen sich auch mit den umliegenden Ortschaften arrangieren. Deshalb endet auch jedes noch so gesellige Campingfest mit viel Bier und Gesang um 23 Uhr, zumindest offiziell. Im echten Leben wurden wir leider noch um halb drei mit Schifferklavier und Gelalle durch benachbarte Dauercamper malträtiert. Aber dagegen sind Urlauber oder gar Tagesgäste machtlos, denn den Dauercampern sind auf den Campingplätzen alle Privilegien zugestanden. Dauerkarte für die Hüpfburg? Nur für Dauercamper. Schlüssel für das Eingangstor? Nur für Dauercamper. Brötchenreservierung? Nur für Dauercamper.

Dauercamper wie Hans und Monika, die auf dem Campingfest „Nur nach Hause gehen wir nicht“ nach der Melodie von Rod Stewarts „Sailing“ laut mitsingen. Sie kommen seit über 30 Jahren jedes Wochenende und jede Ferien auf diesen Campingplatz. Das Zuhause, wohin sie nicht gehen wollen, liegt 100 Kilometer entfernt, in Dessau. Ihre Kinder sind auf dem Platz aufgewachsen, und auch ihre Enkelin. Die ist allerdings nicht so gut auf ihre mittlerweile schwer alkoholisierten Großeltern zu sprechen und lungert lieber mit den anderen Jugendlichen vor dem Waschhaus rum. Urlaub im Ausland, andere Campingplätze? „Wollen wir nicht.“ Wenn Hans nächstes Jahr endlich aufhören kann zu arbeiten, wollen er und Monika den ganzen Sommer in ihrem Wohnwagen verbringen.

Die meisten der Dauercamper sind ohnehin Rentner, erzählt die Inhaberin des Platzes. Die Wagen, die so abenteuerlich am Hang stehen, sind vor Jahren mit dem Kran dorthin gesetzt worden. Jetzt haben sie häufig ein Garagendach, Steinplatten oder Kieswege davor, Beete, Wasserpumpen, Zäune und Gartentore, über denen „Ponderosa“ steht, Fahrräder, Gartenzwerge, Planschbecken. Hier haben sich diejenigen ihr Eigenheim mit Garten geschaffen, die im Alltag darauf verzichten müssen, ebenso wie in den Schrebergärtenkolonien am Stadtrand. Linderung für die geschundenen Arbeiterseelen, schon seit Bismarck lässt sich auf diese Weise sozialer Druck entschärfen. Die eigenen Parzellen werden gehegt und gepflegt und hergezeigt, es entsteht auf dem Campingplatz ein Dorf mit einem Stamm und Stammesältesten. Es wird schwadroniert und sich gegenseitig beigepflichtet, ein „Wir“ gegen den Rest der Welt.

Neuankömmlinge werden freundlich, aber distanziert erst einmal begutachtet, ob sie den geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen Folge leisten. Sie können in dem Dorf schalten und walten, zum Kern werden sie vorerst nicht vordringen. Das führt die ursprüngliche, wirtschaftliche Idee des Campingplatzes, möglichst viele neue Gäste an Land zu ziehen und für ein ständiges Kommen und Gehen zu sorgen, etwas ad absurdum. Denn letztendlich sind es die Touristen, die einen Campingplatz am Leben erhalten, und die verweilen im Schnitt dreieinhalb Tage auf einem Platz.

Ihre Zahl nimmt indes immer weiter zu, jeder zehnte der halben Milliarde EU-Bürger nächtigt mittlerweile regelmäßig im mobilen Zweitheim, und vor allem Deutschland ist – unter deutschen Urlaubern – das beliebteste Reiseland. Ob es an den hohen Spritpreisen, den hohen Temperaturen oder an dem sinkenden Wohlstand liegt? Im vergangenen Jahr haben jedenfalls dreißig Prozent der deutschen Touristen Ferien im eigenen Land gemacht. Dabei besonders beliebt: die Binnengewässer. Viele Campingplätze locken inzwischen mit unterschiedlichen Aktivitäten rund ums Wasser, von Surfschulen über Motor-, Tret- und Ruderbootsverleih bis hin zu Kajak-, Fahrrad- oder Wandertouren. Volleyballfeld und Kinderspielplatz unweit der Badestelle sind schon so gut wie obligat.

Trotz des vielfältigen Angebots und der vielen mit Grillen und Putzen beschäftigten Camper heißt das aber nicht, dass der Aufenthalt auf einem Campingplatz in Freizeitstress ausarten muss. Im Gegenteil. Während die Kinder baden, buddeln oder mit anderen Fußball spielen, kann der Blick entspannt in die Ferne schweifen. Ein Schwan stürzt aus dem gestutzten Schilfbart des Sees, und eine kleine Brise verursacht eine leichte Gänsehaut während des Dösens im Gummiboot. Leider ist die ungestörte Idylle von kurzer Dauer: „1-2-3-4-Test-Test“. Christine probt für ihren Auftritt beim Campingfest, sie hat Country und Western im Programm und macht einen ausgiebigen Soundcheck.

Eine Mutter ein paar Meter weiter auf ihrem Handtuch sagt, das habe sie ja noch nie erlebt, und sie kommt sehr häufig übers Wochenende auf den Platz. Man lernt so viele Leute kennen und hat dabei keine Verständigungsprobleme, das finden auch ihre Kinder gut. Die Gören sind außerdem glücklich, wenn die Fahrt nicht so lange dauert und es das von zu Hause gewohnte Essen gibt. Wer jemals behauptet hat, Kinder seien Pioniere und Entdecker, offen für alles Neue und dem Unbekannten gegenüber aufgeschlossen, hatte keine. Kinder sind die größten Spießer – insofern, als dass sie sich durch eine starke Abneigung gegen eine Veränderung der gewohnten Lebensumgebung und ein starkes Bedürfnis nach Sicherheit auszeichnen. Der Campingplatz ist überschaubar, das Campen erträglich mäßig aufregend, und es gibt jede Menge andere Kinder zum Spielen. Auch die Rentner finden sich auf dem Campingplatz unter ihresgleichen wieder. Und da die Kinder nicht allein anreisen, sind alle Generationen vertreten.

Tatsächlich gibt es vergleichsweise wenig kinderlose Paare auf dem Campingplatz, und wenn, dann handelt es sich zumeist um sehr aktive Wassersportler oder Wandersleut. Zum Glück ist es auf den meisten deutschen Campingplätzen trotz aller Ver- und Gebote den Urlaubern dennoch möglich, den Urlaub so zu gestalten, wie es ihnen beliebt – vorausgesetzt sie sind in der Lage, nach dem altbewährten Motto „leben und leben lassen“ über unliebsame Mitcamper hinwegzusehen. Eine alleinerziehende Mutter mit ihren vier Kindern im Dreimannzelt wird nicht unbedingt Freundschaft schließen mit der jungen Familie, die schon in zweiter Generation mit dem stets beflaggten Campingwagen am feudalsten Stellplatz vor Ort residiert, und die wiederum nicht mit der evangelischen Jugendgruppe. Aber vielleicht begegnet man sich beim Duschen, Baden oder abends in der einzigen Kneipe am Platz. Soll das vermieden werden, heißt es, am eigenen Zeltplatz bleiben. Auf diese Weise wird einfacher, naturnaher Urlaub praktiziert. Was für den einen die perfekt arrangierte Heimat im Idealzustand darstellt, ist dem anderen ein notwendiges Übel, über das es um des lieben Friedens willen hinwegzusehen gilt. Wem das zu viel Kompromiss ist, muss so lange nach dem perfekten Campingplatz suchen, bis das eigene Ich mit dem Umfeld vollends verschmelzen kann.

Das Einswerden mit der Umgebung ist aber gar nicht Ziel und Anliegen eines jeden Campingurlaubers. Das Interesse an Land und Leuten kann durchaus auch beobachtender Natur sein und das Partizipieren an Stammesritualen eine Möglichkeit, die viele Touristen lieber ungenutzt vorbeiziehen lassen. Ein deutscher Tourist auf einem deutschen Campingplatz ist mit dem Habitus der eigenen Landsleute größtenteils vertraut – und weiß bereits zum Zeitpunkt der Urlaubsplanung in der näheren Umgebung, dass dort manche gleicher sind als andere. Es gibt also einen Homo campicus, der immer schon da ist, wenn neue kommen und der eine gewisse Grundstimmung auf dem Platz vorgibt. Wer’s mag, macht mit. Wer nicht, macht sein eigenes Ding – und kommt im Zweifelsfall nicht wieder.

„Nur nach Hause gehen wir nicht“ klingt der alkoholschwere Gruppengesang am Morgen nach dem Campingfest noch im Ohr nach. Kleine Schnapsflaschen pflastern den Weg zum Kiosk, der Kaffee ausschenkt. „Nur nach Hause“ will das Ich. Die zelebrierte Mischung aus Ignoranz und Patriotismus an diesem Ort ist schwer anzunehmen, doch ignorieren lässt sie sich auch nicht. Ein Gefühl der Bedrängnis wächst gleichzeitig mit dem der Einsamkeit. Der Ballast des eigenen Haushalts wiegt noch schwerer außerhalb des gewohnten Kontextes und stiftet keineswegs ein Gefühl der Sicherheit, sondern der Entfremdung und Verlorenheit. Der Vorteil eines seinen Besitzer auf Rädern begleitenden Hausstands erschließt sich automatisch. Camping will eben gelernt sein. Es hat diese Menschen viele Jahre und viel Arbeit gekostet, sich an diesem Fleck zu Hause zu fühlen. Manche schaffen es nie.

Ein letzter Blick auf den mit Motorbooten rege befahrenen Brandenburger See ruft eine Sehnsucht nach dem räudigen Idyll des vertrauten Berliner Sees hervor. Keine Motorboote, nur Hundegebell und Kindergeschrei und quakende Frösche. Wir packen unsere mehr als sieben Sachen zusammen und los geht’s – leider erst mal nicht, denn die Schranke hat noch genau zwanzig Minuten geschlossen. Von beiden Seiten bildet sich eine Autoschlange. Punkt 15 Uhr öffnet sich das Tor zur Freiheit, Punkt 16 Uhr liegen wir am vertrauten Badeplatz. Zu Hause ist es eben doch am schönsten.

JULIA NIEMANN, Jahrgang 1973, ist taz.de-Redakteurin und gerne mal fern der Heimat und hat sogar ein Buch darüber geschrieben: „Das kleine Campingbuch“ erschien 2000 im Heyne-Verlag und ist leider nur noch in gut sortierten Antiquariaten erhältlich