: Ausziehen und Zigaretten rauchen
Noch bis zum 30. Juli in der Brotfabrik: „50 Jahre Anderground“. Filme des Berliner Undergroundregisseurs Carl Andersen. Seine Themen sind die Basics der menschlichen Existenz: Sex, Leidenschaft, Liebe, Beziehungen, Scheitern
Komisch, wie schnell die Zeit so vergeht. Grad eben war man rausgegangen, um Zigaretten zu holen, und dann war man 50. Im Mai hatte es den Beatnik-Dichter Harry Hass getroffen und nun eben Carl Andersen, den aus Wien stammenden Regisseur vieler seltsamer Undergroundfilme. Unter dem Motto „50 Jahre Anderground“ werden sie noch bis zum 30. Juli in der Brotfabrik und in den Tilsiter Lichtspielen gezeigt.
Seit 20 Jahren macht Carl Andersen, der sein Geld in der Videothek Negativeland verdient, Filme ohne Budget, in denen es, mal mehr, mal weniger dokumentarisch, um die Basics der menschlichen Existenz geht: Sex, Leidenschaft, Liebe, Beziehungen, Scheitern. Seine ersten Filme gingen mehr Richtung Trash mit bunten Busen, Vampiren und lesbischer Liebe.
„Mondo Weirdo“ (1990), das bekannteste Werk des No-Budget-Regisseurs, ist ein Achtzigerjahre-Traum „full of beauty and destruction“. Er handelt davon, wie ein junges Mädchen seine Angst vor Sex durch Sex überwindet.
„Killing Mom“ (1994), einer der wenigen Andersen-Film mit einer „richtigen“ Geschichte, ist eine Hommage an seinen verehrten Kollegen Lothar Lambert, der ihn wiederum – zusammen mit „seinem“ Schauspieler Erwin Leder – in der sehr schönen Dokumentation „Küss die Kamera – Wiener Wahn hoch zwei“ (2005) porträtierte.
Eine Zeit lang in den 90er-Jahren war dann die Selbsterfahrungskomponente, das therapeutisch forschende Element sozusagen, in den Andersen-Filmen größer geworden, also: ausziehen, Zigaretten rauchen, gucken, wie sich das anfühlt, ergebnislos quatschen bis zum Umfallen und nur keine Angst vor etwaigen Peinlichkeiten.
Peinlichkeit ist ein wichtiges Erkenntnisinstrument im Werk Andersens, das Erkennen hebt sie wieder auf im dreifachen hegelschen Sinne.
Die Kamera ist eine Maschine zur Selbstobjektivierung. Was manchmal so leichthin als Selbstverwirklichungskino denunziert werden könnte, macht die Filme durchlässiger, stiftet Kommunikation zwischen Zuschauern und Machern. Wie in dem beziehungsexperimentellen Werk „Die Sehnsucht nach dem Mehr“ oder dem teils pornografischen „… lick an apple like a pussy: the movie stanislawski never made“. Der Film erzählt von einem Castingwochenende, das die polnische Undergroundregisseurin Malga Kubiak in der Pampa veranstaltet. Sie möchte unbedingt, dass die Laienschauspieler echten Sex vor der Kamera haben; diese zieren sich jedoch.
In einer Szene lassen sich zwei betrunkene Schauspieler dann doch dazu überreden. Anfangs wirkt das hölzern (also authentisch), wie sie sich ausziehen, dann scheinen sie plötzlich die Kamera zu vergessen und Gefallen an den Umarmungen zu empfinden, um dann gleichsam wieder aufzuwachen und die Fortführung der Szene zu verweigern.
Der Unterschied zwischen den schönen, fließenden Bewegungen, als die beiden die Kamera vergessen haben, und der groben, nudistisch angezogenen Nacktheit, in die sie fallen, als ihnen das alles wieder bewusst wird und sie anfangen, die Regisseurin zu beschimpfen, ist frappant.
Viele seiner Filme wirken inzwischen historisch. Teils, weil sie ästhetisch und thematisch doch sehr in den 80er-Jahren verwurzelt sind, teils, weil Nacktheit im Autorenfilm im Zuge der technischen Entwicklung eigentlich kein Thema mehr ist. Man braucht dazu längst keinen Regisseur mehr. Ein großer Teil des Internets besteht ja längst aus selbst inszenierter Pornografie. Andererseits ist Kino etwas anderes als allein vor dem Computer, und historisch sind ja auch viele Filme anderer Underground-Regisseure.
Carl Andersen ist ein besessener Filmemacher. Der Film, an dem er grad arbeitet, heißt „Obsession“. Auf die Frage der Internetkinoseite „Kinokarate“, ob es noch etwas anderes gebe, das er mit ähnlicher Intensität betreibe wie das Filmemachen, antwortete er: „Beziehungen zu Grabe tragen vielleicht“. Darum geht’s allerdings auch oft in seinen Filmen. DETLEF KUHLBRODT