: Weit mehr als bloße Nostalgie
In Reykjavíks Elfenschule erfährt man alles über das verborgene Volk, das Island dicht besiedelt – Elfen, Trolle und sogar bis zu zwei Meter große Wesen. Was aber hat das unsichtbare Volk mit der Globalisierung zu tun? Eine Spurensuche
VON ISABELLA KROTH
In dem kleinen Garten am Rande von Islands Hauptstadt Reykjavík spielt sich Sonderbares ab: Vorsichtig nähert sich eine Frau mit konzentriertem Blick dem Geranienbeet. Der Mann neben ihr filmt langsam und mit wackliger Kamera den kleinen Teich, in dem Blätter in braunem Wasser schwimmen. Andere haben sich in einem Grüppchen zusammengestellt und betrachten unsicher Eisenhut, Rosen und die Gartenzwerge unter der Tanne.
Mitten unter ihnen steht Magnús Skarphédinsson. „Die Nachbarn hier kennen mich inzwischen“, sagt er, schließlich komme er regelmäßig in diesen schönen Garten. Er bringt dann immer eine Gruppe wissbegieriger Touristen mit. Die studieren bei ihm, denn Magnús Skarphédinsson arbeitet als Islands einziger Elfenschuldirektor.
Wer einen halben Tag mit ihm auf Exkursion durch Reykjavík geht, erfährt alles über das verborgene Volk, das am liebsten in Lavasteinen wohnt. Die Schüler lernen etwa, dass isländische Elfen lange spindeldürre Beine und große Ohren haben, außerdem verwuscheltes Haar. Dass Zwerge gerne Mäntel tragen, spitze Hüte und Schuhe. Sie erfahren auch, dass Gnome nur ein paar Zentimeter groß werden, Trolle dagegen viele hundert Meter. Und sie hören, dass es da noch das Huldufólk gibt – bis zu zwei Meter große Wesen, die den Menschen sehr ähnlich sind.
Island ist die größte Vulkaninsel der Erde und liegt genau zwischen den tektonischen Platten von Amerika und Europa. Dass hier die Elemente aufeinandertreffen steht in jedem Reiseführer. Aber erst wer hierher reist, erfährt, was damit gemeint ist. Brodelnde Schwefelfelder, leise klirrende Gletscherseen, kochende Geysire und gigantische Wasserfälle vereinen sich zu einem Gesamtkunstwerk, das wie aus einer übermütigen Laune der Natur entsprungen scheint. Wenn ohne jede Vorwarnung plötzlich der Nebel aufzieht oder das metallene Licht des Herbstes giftgrüne Flechten oder weißes Wollgras anstrahlt, dann ist es plötzlich so, als hätte ein unsichtbarer Regisseur die Kulisse von „Der Herr der Ringe“ aufbauen lassen.
Laut einer Umfrage glaubt rund die Hälfte der Isländer an Elfen – und fast die andere Hälfte will zumindest nicht an deren Existenz zweifeln. Angeblich sollen die unsichtbaren Wesen sogar die eigentliche Einwohnerzahl in Island übertreffen. Platz genug gäbe es auf der Insel, die zweieinhalb Mal so groß ist wie die Schweiz, aber nur etwas mehr Einwohner hat als Augsburg – rund 300.000.
Die Isländer sprechen allerdings nur ungern über diesen Glauben. Vielleicht schämen sie sich ob dieser Eigenart, weil die doch so wenig in das Bild des modernen Islands zu passen scheint. Vor allem die jungen Leute bemühen sich, den Anschluss an das restliche Europa nicht zu verpassen. Dass das Bild von Reykjavík inzwischen auch durch amerikanische Tankstellen- und Fast-Food-Ketten geprägt wird, stört sie weniger. Vielen Älteren geht dieser Wandel allerdings deutlich zu schnell. Und dann kommen die Elfen ins Spiel. Denn überall dort, wo neu gebaut werden soll, tauchen plötzlich Probleme auf: Arbeiter werden krank, plötzlich platzen Wasserleitungen, Maschinen fallen aus oder gehen ganz kaputt. Und immer sollen die Elfen daran Schuld haben.
Valdimar Hafstein hat dieses Phänomen näher untersucht. Für den Wissenschaftler sind die Elfen so etwas wie die isländischen Globalisierungsgegner Nummer eins. Während sich Island innerhalb weniger Jahrzehnte durch die Industrialisierung und Modernisierung komplett gewandelt habe, sei die Welt des verborgenen Volks gleich geblieben: „Die Elfen leben immer noch in der Kultur von Islands vorindustrieller Gesellschaft, bei ihnen gibt es keine Zeichen der Modernisierung.“
Für Hafstein stellt die Welt der Elfen deshalb etwas dar, was sich viele Isländer wieder sehnlichst herbeiwünschen. Und das sei mehr als bloße Nostalgie: „Es ist Ausdruck schwerer Sorgen über kulturelle Identität, Nationalgefühl und Zweifeln am sozialen Wandel.“
Magnús’ Schüler ahnen allerdings von all dem nichts. Eine ältere Frau zieht ihr blaues Cape enger, es hat begonnen zu regnen. Der Lehrer ruft seine Schüler wieder zurück zum Bus, die Fahrt geht weiter nach Kopavogur, einem Vorort von Reykjavík. Im Bus ist es ganz still, bis Magnús von dem „Alfhóllsvegur“ zu erzählen beginnt, dem Elfenhügelweg. Diese Straße hätte eigentlich schnurgerade verlegt werden sollen, aber dann sei ein Unglück nach dem anderen geschehen: „Maschinen sind kaputtgegangen und ganze Laster voll Zement einfach umgekippt – bis sich schließlich auch die Bauarbeiter nicht mehr an die Arbeit trauten.“
Jeder, der nicht weiß, dass der kleine Hügel neben der Straße die Behausung einer unsichtbaren Familie sein soll, fährt achtlos daran vorbei. Kein Schild verweist auf diesen geheimnisvollen Wohnsitz, kein Zaun verleiht ihm zusätzliche Bedeutung. Trotzdem packt die Gruppe erneut die Kameras und Fotoapparate aus. Erst umrunden die Besucher ein, zwei Mal den Stein, der nicht größer als ein Geräteschuppen im Vorgarten ist. Dann wird geknipst. Die Mutigen klettern sogar hinauf, filmen von oben die Nachbarschaft sowie Magnús, der schon wieder dabei ist, neue fantastische Geschichten über die Elfen zu erzählen. Eine Frau packt sogar ein Pendel aus. Sie will Beweise und versucht fremde Schwingungen zu spüren.
Später, im Klassenzimmer seiner Elfenschule, verleiht Magnús Skarphédinsson seinen Schülern feierlich ein amtliches Elfen-Diplom. Und er spricht von einer Wissenschaft, dessen Oberfläche gerade erst angekratzt sei. Die Touristen schmunzeln ein wenig über das Diplom, stecken es in ihre Taschen zu den voll geknipsten Filmen. Die Erinnerung an Magnús und an seine wundersame Tour durch eine unsichtbare Welt wird ihnen noch einige Tage nachhängen.
Elfen haben sie während des Unterrichts nicht gesehen. Aber vielleicht ist die Elfenschule dafür auch der falsche Ort. Denn eigentlich ist die Wissenschaft von den Elfen ganz einfach. Manchmal genügt es schon, Steine, Blumen, Moos oder andere Dinge einfach ein bisschen länger zu betrachten als sonst. Und plötzlich ist einem die verborgene Welt auf Island ein ganzes Stück näher gekommen.