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Archiv-Artikel

Genealogie der Birne

Alle Schätze des Schrecklichen, Grotesken, Unheimlichen und Närrischen, die Paris enthält: Honoré Daumier kannte sie aus dem Effeff – wie die Ausstellung der Kunstsammlungen Chemnitz , „Ein Spötter ist’s und scharf sein Scherz“, die Worte seines Dichterfreunds Charles Baudelaire bestätigt

Honoré Daumier, der Bilderfinder der menschlichen Komödie, blickte Realisten wie Idealisten gleich skeptisch über die Schulter

VON MARCUS WOELLER

Der Mitbegründer des Satiremagazins Titanic, Hans Traxler, hatte zu Beginn der 1980er-Jahre strafrechtlich nichts zu befürchten, als er den frisch in seine Kanzlerschaft gewählten Helmut Kohl als Birne zeichnete. Die Metapher des Politikerkopfs als saftige, weiche Süßfrucht vergällte Kohl lediglich die Chance auf ein cooles Image. Ansonsten hatte seine Darstellung als bebirnte Obrigkeit schon Tradition. Honoré Daumier porträtierte Louis-Philippe, den sogenannten Bürgerkönig, als birnenhäuptigen, gefräßigen „Gargantua“. Er wanderte allerdings wegen Majestätsbeleidigung für ein halbes Jahr ins Gefängnis.

Für den 23-jährigen Daumier, der seine journalistische Karriere als politischer Zeichner bei der satirischen Zeitschrift La Caricature gerade erst begonnen hatte, war diese harte Strafe zwar ein Schock, doch kein unerwarteter. Als überzeugter Republikaner misstraute er der vorgeblichen Liberalität des im Zuge der Julirevolution auf den Thron gekommenen Louis-Philippe. Den Angriff auf die Pressefreiheit mit den 1835 verabschiedeten Septembergesetzen sah Daumier voraus und veröffentlichte kurz zuvor das Blatt „Liberté de la presse. Rührt nicht daran!“ Es zeigt die denkmalartig im Vordergrund aufragende Gestalt eines Druckers. Selbstbewusst posiert der Handwerker vor Bourgeoisie und Hofstaat, die im Hintergrund aufgebracht ihre Besitzstände wahren.

Die Monate im legendären Pariser Gefängnis Sainte-Pelagie, in dem auch Marquis de Sade eingesessen hatte, machten Daumier bekannt. Seine Karikaturen der Abgeordneten der Nationalversammlung machten ihn berüchtigt und verhasst. Zwischen 1832 und 1835 fertigte er über fünfzig handgroße, bemalte Tonmodelle, die ihm als physiognomische Studien dienten. Nach diesen Plastiken schuf er die „portrait-charges“ – eine bissige Serie der einflussreichsten Politiker der Julimonarchie. Danach war es mit der personifizierten Karikatur erst mal vorbei.

Also erfand Daumier eine fiktive Figur, an der er durchspielen konnte, was die Prominenz aus Politik und Wirtschaft, Hof und Bürgertum so vormachte. „Robert Macaire“ war ein skrupelloser Geschäftsmann, der das Credo des Bürgerkönigs „Enrichissez-vous“ lebte und sich nicht um die Folgen scherte. Er verkörperte und karikierte den Prototyp einer sich massiv industrialisierenden Gesellschaft, die nach persönlicher Bereicherung strebte, ohne die sozialen Missstände zu erkennen. Daumier lebte nun sein Gespür für feinen Sarkasmus, aber auch seine Feindseligkeit gegen die Bigotterie des Kleinbürgertums als Zeichner der neu gegründeten Tageszeitung Le Charivari aus, für die er in den 1840er-Jahren überaus produktiv war. 100 bis 125 Lithografien schuf er pro Jahr.

Mit der Februarrevolution 1848 sah sich Daumier bestätigt und kündigte sein Comeback als politischer Zeichner an, der sich nicht mehr hinter fiktiven Geschichten verstecken muss. Doch die Republik hielt nur vier Jahre, dann ließ sich der Staatspräsident als Napoleon III. zum „Kaiser der Franzosen“ krönen. Die gerade erst abgeschaffte Pressezensur wurde wieder eingeführt, Regimekritiker wurden bespitzelt und die demokratischen Rechte des Volks rigider denn je beschnitten. Als Symbolfigur des Bonapartismus schuf Daumier den „Ratapoil“, die haarige Ratte. Ein hageres Männlein mit zugeknöpftem, steifen Rock und zerknautschtem Zylinder, gezwirbeltem Bärtchen, spitzer Nase und Gehstock: eitel, heruntergekommen, feige, wichtigtuerisch. In mehr als dreißig Zeichnungen geißelt es die Heuchelei und Verkommenheit des Zweiten Kaiserreichs.

Berühmt geworden ist Ratapoil als ganzfigurig freistehende Plastik, die der Kunstgeschichte der Moderne als Vorläufer zu Rodins Revolution der Skulptur diente und in seiner filigranen Form schon an Giacometti erinnert. Auch aus Auftragsmangel musste sich Daumier anderen künstlerischen Gattungen öffnen, blieb jedoch trotz seiner rund 300 Ölgemälde Lithograf und Zeichner durch und durch, wie eine Ausstellung in Chemnitz gerade zeigt.

Die Kunstsammlungen Chemnitz besitzen eine der größten Lithografie-Kollektionen Daumiers außerhalb Frankreichs. Der Textilfabrikant Erich Goeritz hatte sie dem städtischen Museum 1925 geschenkt. Dieser Grundstock von mehr als tausend Blättern wurde inzwischen zu einer mehr als ein Drittel des gesamten lithografischen Nachlasses umfassenden Sammlung komplettiert. Honoré Daumier, der vor zweihundert Jahren geboren wurde, verstand sich als Bilderfinder der menschlichen Komödie, der Realisten wie Idealisten gleichermaßen skeptisch über die Schulter blickte. Sein Freund Charles Baudelaire schätzte ihn als bodenständigen Zeitgenossen und Zeichner im Wortsinne: „Alle Schätze des Schrecklichen, Grotesken, Unheimlichen und Närrischen, die Paris enthält, Daumier kennt sie.“ Die Chemnitzer Ausstellung macht nun deutlich, dass die Wahrheiten, die in Daumiers bildnerischem Spott und seiner zeichnerischen Scharfzüngigkeit liegen, auch heute noch gelten.

Bis 31. August, Kunstsammlungen Chemnitz, Katalog (Kerber Verlag) 26 €