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Archiv-Artikel

eine million baustellen von DIETRICH ZUR NEDDEN

Das Leben ist eine Baustelle, sagt ein Filmtitel jüngeren Datums, den die eine oder der andere zum alltäglichen Fazit erkoren hat. Was manche wiederum sofort korrigieren: Das Leben ist nicht eine Baustelle, es besteht aus einer Million Baustellen.

Ob eine oder eine Million: Das in dem Bild durchscheinende Lob des Provisorischen schieben wir zunächst beiseite mit der Frage einer Freundin: „Alles wird gut, dauert nur wahrscheinlich, oder?“

Stattdessen sei das Augenmerk gerichtet auf eine Baugrube hierorts, die, sobald sie einem entgegengähnt, entweder homerisches Gelächter entfacht oder ein mal müdes, mal neunmalkluges, mal weltgewandtes Lächeln nebst Kopfschütteln auslöst.

Wie gemeinhin üblich ist der Bauzaun mit dem Namen des Projekts verziert. Das entstehende Wohnquartier nennt sich „Sixth Sense Living“. Was mag es nur bedeuten? Glücklicherweise hat der Bauherr eine Internetadresse eingerichtet: „Der sechste Sinn ist ein umgangssprachlicher Platzhalter für viele ungewöhnliche, teilweise mysteriöse, aber offenbar zur realen Welt irgendwie dazugehörende Energieformen.“

Der Ton verspricht so etwas wie spirituell ausgerichtete Instantphilosophie, transzendenten Okkultismus, jedenfalls etwas, das schnurz mal piepe betrachtet dicht dran liegt an nicht ganz dichtem Schwurbelgedöns. Dem gelegentlich Wissbegierigen springt ein zentraler Begriff auf der Titelseite entgegen. „Feinstofflichkeit ist etwas, was wir zwar nicht messen, aber durch unsere Sinne intuitiv und körperlich wahrnehmen können. Nach feinstofflichen Prinzipien Häuser zu bauen bedeutet, Bewohnern … eine bautechnische Unterstützung anzubieten, über Harmonie, Balance und Regeneration zu Glück und Zufriedenheit zu gelangen … Anspruchsvolle Materialität entfaltet ihren Sinn aber erst durch Spiritualität.“

Inmitten einer Ära des verwilderten Turbokapitalismus, implantiert mit Frondienstleistung und Stress, vulgo: Mühsal und Plackerei, so vergleichsweise grundlos sie auch empfunden sein mögen, mittendrin entfalten sich feinstoffliche Sensibilität und physisch spürbare Metagenesung. Namentlich versorgen auch Design-Mineralwässer inzwischen unser Dasein mit „Spirit“ oder „Balance“. Wer bräuchte abwechselnd beides nicht? Wer sehnt sich nicht nach wenigstens käuflichem Ausgleich? „Sixth Sense Living“ – da geht’s lang!

Dass im Wortfeld der Feinstofflichkeit wie von selbst auch Feinstaub, Feinkost, Feinwaschmittel herumschweben – geschenkt. Weitaus aufklärerischer und von der Vernunft lässig nahegelegt ist in diesem Fall etwas anderes, nämlich der Umstand, dass sich ein paar Meter entfernt von dem Bauvorhaben ein Friedhof ausbreitet, auf dem die sterblichen Überreste des Universalkünstlers Kurt Schwitters in der Grube liegen, der 1948 in der Emigration starb. Auf dem Grabstein ein einziger Satz: „Man kann ja nie wissen“.

Vor allem jedoch gemahnt der dem „Sixth Sense Living“ benachbarte Gottesacker an den Schnitter Tod, der die Sense schwingt. Und nu muss für heute auch an dieser Stelle Feierabend sein. Schluss! Aus! Sense!