: Ihm geht’s jetzt besser
Seine Mission sind die Wanderarbeiter Chinas. Für Cui Changyong hat der Aufschwung Chinas das Leben verbessert – weil er dafür kämpfte. Millionen von Menschen aber bringt der Wandel nur eines: schlechtere Lebensbedingungen
Wanderarbeiter in China sind vor allem Menschen vom Land, die auf der Suche nach Arbeit in die reichen Küstenstädte wandern und für einen Lohn von unter zwei Euro am Tag die modernen Metropolen hoch ziehen, 14-stündige Schichtdienste in den Produktionsstätten leisten und unter schwierigsten Bedingungen in den Kohlegruben schuften. Sie sind nicht krankenversichert, es fehlt an Arbeitsschutz, und ihre Kinder dürfen häufig nicht die staatlichen Schulen besuchen. Dieses gigantische Herr an billigen Arbeitskräften hat Chinas Aufschwung erst ermöglicht.Laut amnesty international ist die Zahl der Wanderarbeiter seit 1980 von 2 Millionen auf rund 200 Millionen gestiegen. Bis 2015 werden es wohl 300 Millionen Menschen sein. Beobachter sprechen von der „größten Migrationsbewegung in Friedenszeiten“.Da die staatlich kontrollierte Einheitsgewerkschaft kaum die Interessen der Wanderarbeiter wahrnimmt, entstehen zunehmend freie Gewerkschaftsinitiativen. Xiao xiao niao (Kleines Vögelchen) nennt sich eine Initiative, die in Peking gegründet wurde und sich inzwischen auch im Süden Chinas für bessere Arbeitsbedingungen der Wanderarbeiter einsetzt. Die Initiative nennt sich so, weil ein Wanderarbeiter in China so einsam und hilflos ist wie ein kleiner Vogel am Himmel. FLEE
AUS SHENZHEN FELIX LEE
Cui Changyong wischt sich mit einem Papiertaschentuch das Gemisch aus Regenwasser und Schweiß vom Gesicht. Der 33-Jährige ist klitschnass, von Kopf bis Fuß durchtränkt. Er hat kurz geschorene Haare, trägt ein schwarzes T-Shirt und Sandalen. Cui sitzt in einem heruntergekommenen Schnellrestaurant, in dem nachmittags Milchtee und süße Teigwaren angeboten werden. Eine Klimaanlage so groß wie ein Kühlschrank bläst ihm kalte Luft entgegen. Es stört ihn nicht. „Ein wenig Abkühlung in dieser schwülheißen Hitze tut gut“, sagt er.
Es ist Regenzeit in der südchinesischen Metropole Shenzhen. Doch so viel Regen wie jetzt hat Cui auch noch nicht erlebt. Seit Monaten prasselt es unaufhörlich vom Himmel. Die Felder am Stadtrand sind überschwemmt, die Klamotten klamm und überall im hügeligen Stadtgebiet staut sich das Wasser. Einige Zufahrtsstraßen der Zehn-Millionen-Stadt sind nur noch mit Bussen oder schwerem Gefährt passierbar. Cui schiebt den Dauerregen auf den Klimawandel. Und der mache eben auch vor China nicht Halt, sagt er. Genauso wenig wie der soziale Wandel in all seinen Höhen und Tiefen.
Den sozialen Wandel der letzten zwei Jahrzehnte in China – den hat er am eigenen Leib miterlebt. Aus Henan kommt er, einer Provinz in der östlichen Mitte des Riesenreichs. Mit 96,3 Millionen Einwohnern ist sie die bevölkerungsreichste Provinz Chinas. Mit Stolz erzählt Cui, dass sich die einstigen Kaiserstädte Luoyang und Kaifeng in seiner Heimatprovinz befinden. Als „Wiege der chinesischen Kultur“ werde Henan gesehen. 19 Dynastien hatten hier ihren Sitz. Seine Bewohner sehen sich als Nachfahren des Gelben Kaisers, der vor über 4.000 Jahren regiert haben soll und den Anfang der chinesischen Kultur darstellt. Doch als das Machtzentrum Jahrtausende später nach Peking verlegt wurde verlor Henan seine Schlüsselstellung. Heute ist es eine der ärmsten Provinzen Chinas. „Wir Menschen aus Henan sind reich an Kultur, reich an Wissen, ansonsten aber bitterarm“, sagt Cui.
Die Eltern von Cui Changyong sind Bauern. Obwohl er auf dem Land aufwuchs, hat er bis zum Abitur eine gute Bildung genossen. Nur knapp verfehlte er 1996 die zentrale Aufnahmeprüfung, die ihn an die Universität gebracht hätte. Durch einen Studienabschluss wäre er zu einem von Chinas Gewinnern geworden. So aber? Ein Jahr blieb er noch auf dem Hof seiner Eltern. Dann machte er das, was 100 Millionen Chinesen auf dem Land machen: Sie wandern durchs Land und suchen Arbeit.
Cui kam in die südchinesische Boommetropole Shenzhen, als dort gerade die Tore zum benachbarten Hongkong geöffnet wurden. Damals. Seit elf Jahren wohnt er nun in Shenzhen, und heute setzt er sich für die Verlierer des Booms ein. Letztes Jahr war er für einen Tag berühmt. Zeitungen schrieben, er sei der erste chinesische Fabrikarbeiter, der auf Augenhöhe mit einem globalen Großkonzern über bessere Arbeitsbedingungen in chinesischen Produktionsstätten verhandelt hat. Der Großkonzern hieß Disney.
Zwei Jahre lang hatte Cui zuvor für eine Spielzeugfabrik gearbeitet, die den Disney-Konzert beliefert. Er war Zeichner und Schnitzer von Disney-Figuren aus Hartgummi. Nicht mal den gesetzlichen Mindestlohn von 70 Euro im Monat bekamen er und seine Kollegen ausgezahlt. Überstunden wurden nicht vergütet, Arbeitszeiten länger angesetzt als gesetzlich erlaubt und für Wohnheimplätze und Kantinenessen bekamen sie mehr Geld vom Lohn abgezogen als vereinbart. Mit vier Kollegen kündigte Cui seinen Job, reichte beim Arbeitsamt zunächst Beschwerde ein, und als die Behörde nicht reagierte, klagte er vor dem Verwaltungsgericht – ein bis dahin einmaliger Vorgang in China. Der Disney-Konzern nahm daraufhin Verhandlungen mit Cui auf. Der Spielzeugkonzern sorgte dafür, dass die Löhne in den Produktionsstätten angehoben wurden. Ein Erfolg. Seine Arbeit in der Fabrik nahm Cui nach diesem Knüller aber nicht wieder auf. Heute arbeitet er für eine freie Gewerkschaft und berät die Wanderarbeiterinitiative Xiao xiao niao (Kleines Vögelchen).
Cui gehört zu der Generation, die in den 70er- und 80er-Jahren aufgewachsen ist. Die wirren Zeiten der Kulturrevolution unter Mao kennt er nur von Erzählungen. Stattdessen ist er mit den hoffnungsvollen Reformen Deng Xiaopings groß geworden, der allen Chinesen ein besseres Leben versprach. „Bis in die 90er-Jahre habe ich fest daran geglaubt“, sagt Cui. „Und es ging uns ja tatsächlich immer besser.“ Erst konnte sich der Durchschnittschinese ein Fahrrad leisten, dann ein Transistorradio, wenig später kam ein Kühlschrank dazu und ein Fernseher. Doch seit einigen Jahren geht die Schere weit auseinander. Während es 100 Millionen Chinesen auch zum eigenen Auto und dem Eigenheim schafften, bedeutet der Aufschwung für doppelt so viele Menschen vor allem eines: mehr Arbeit bei fehlender Perspektive.
Als Cui in den 90er-Jahren sein Heimatdorf in Henan verließ, war er noch voller Hoffnung. „Ich war bereit, einige Jahre hart zu arbeiten“, erzählt er, „um dann aber den Aufstieg zu schaffen.“ Doch aus den Jahren ist ein ganzes Jahrzehnt geworden. Er hat es immerhin geschafft, eine Grafikausbildung nachzuholen. Und mit seinem höheren Gehalt kann er sich nun eine eigene Zweizimmerwohnung leisten. Doch er hat nicht vergessen, wie viele seiner ehemaligen Kollegen nach wie vor hausen. Er berichtet von Ungeziefer in den Betten der Fabrikwohnheime, den dreckigen Waschräumen und dem unverträglichen Kantinenessen.
„Nach Jahren des Aufschwungs macht sich bei vielen Resignation breit“, erzählt Cui. Millionen von Arbeitsmigranten merken, dass Chinas Wohlstand auf ihre Kosten geht – ohne dass sie davon profitieren. Für viele von ihnen hätten sich die Lebensbedingungen gar verschlechtert. „Jeder von uns kann jederzeit gefeuert werden“, sagt Cui, der nun schon im Luftstrom der Klimaanlage etwas getrocknet ist. Vor allem die rapide gestiegenen Lebensmittelpreise bedeutet für viele den Ruin. Dies habe es früher bei den Staatsbetrieben nicht gegeben. Mit seiner Aufgabe, sich für die Rechte der Arbeitsmigranten einzusetzen, mag er Zukunft haben. Aber schon seine Frau hat sie nicht.
Auch sie kommt aus Henan, kennengelernt haben sich die beiden jedoch in Shenzhen. Sie wohnt noch immer in einem Wohnheim der Fabrik, in der sie arbeitet. Ein- oder zweimal in der Woche treffen sie sich – immerhin. Ihre beiden Kinder sehen sie seltener, ein- oder zweimal im Jahr. Sie haben sie zu den Großeltern nach Henan gebracht. Trotz der offiziell nach wie vor gültigen Einkindpolitik dürfen in manchen Provinzen zwei Kinder gezeugt werden, wenn das erste ein Mädchen ist. Glücklich seien er und seine Frau nicht, dass sie sich nicht selbst um ihre Kinder kümmern können. Der Bildungsgrad seiner Eltern sei nicht besonders hoch. Und natürlich würde er sie gern aufwachsen sehen und ihnen jeden Tag etwas mit auf den Lebensweg geben.
Doch dieser Widerspruch aus dem, was man möchte und kann, ist für die Wanderarbeiter in China völlig normal. Millionen von ihnen arbeiten in den Küstenstädten und haben ihre Kinder zu den Großeltern in die Heimatdörfer geschickt. Sie können sich einfach nicht selbst um sie kümmern.
Neben all den finanziellen und zeitlichen Hürden, die Wanderarbeiter von ihren Kindern fernhalten, gibt es noch die strengen Regeln des „Hukou“. Menschen vom Land erhalten in den reichen Küstenstädten nur dann eine Aufenthaltsgenehmigung, wenn sie einen Job nachweisen können. Kinder und andere Angehörige erhalten sie nicht. „Auch das muss sich ändern“, sagt Cui und blickt entschlossen, als er das sagt. „Die Zeit dafür ist reif.“