: Die Postrafaeliten
Der HSV quält sich zu einem 3:1 gegen Ingolstadt und bemüht sich, den Verlust van der Vaarts zu verkraften
INGOLSTADT taz ■ In diesem Moment der Enge hielt Dietmar Beiersdorfer die Zeit für gekommen, seinen Fundus an klassischer Bildung zu öffnen. Der Sportdirektor des Hamburger SV stand hinter dem Tribünchen des Ingolstädter Fußballstadions. Eine Traube von Reportern hatte ihn an einem Baugerüst eingekreist und stellte allerhand Fragen zu Themen, über die zu sprechen Beiersdorfer überhaupt keine Lust hatte. Nun sollte er sagen, was man denn Positives für die nun anstehende Prüfung, die Bundesligaeröffnung beim FC Bayern am kommenden Freitag, mitnehmen könne. Jeder wusste, dass es nicht viel mitzunehmen gab aus diesem mühseligen 3:1 des HSV in der ersten DFB-Pokalrunde beim FC Ingolstadt 04.
Beiersdorfer befreite sich mit einem lateinischen Aphorismus: „Ut desint vires tamen est laudanda voluntas.“ Womit zumindest bewiesen wäre, dass die Weisheit Ovids auch heute noch besticht – zumindest die für einen Augenblick konsternierten Reporter. Mit einem überlegenen Schmunzeln schob der studierte Betriebswirt Beiersdorfer die Übersetzung gleich hinterher: „Auch wenn die Kräfte fehlen, so ist doch der Wille zu loben.“ Er meinte den Willen, den die Spieler des HSV aufgebracht hatten, um die Partie nach einer desolaten ersten Hälfte und dem 0:1 zur Pause, erzielt durch Ersin Demir (33.), noch zu drehen. Angreifer Ivica Olic leitete diese Wende mit seinen zwei Toren (51., 54.) ein. Den kosmetischen Treffer zum Endstand erzielte Paolo Guerrero in der Nachspielzeit.
Doch das bestimmende Thema dieses Tages schaffte Beiersdorfer mit seiner kleinen Lateinlektion nicht aus der Welt. „Rafael van der Vaart spielt jetzt bei Real Madrid. Ich habe keine Lust mehr auf das Thema“, pampte er. „Es dreht sich zu viel um van der Vaart.“ Mittlerweile war Piotr Trochowski aus der Dusche gekommen. Auch er musste sich fragen lassen, wie es so sei, ohne van der Vaart zu spielen. „Wir haben letzte Saison auch oft ohne Rafael gespielt. Das ist ein Thema von gestern“, gab Trochowski zurück. Doch da irrte er. Solange der HSV spielt wie in Ingolstadt, wird das lästige Thema ganz und gar gegenwärtig bleiben. Trainer Martin Jol war wenigstens so ehrlich zuzugeben, dass er van der Vaart durchaus vermisst habe, „weil er derjenige ist, der in einer Phase wie nach dem 2:1 die anderen spielen lässt mit seinen tödlichen Pässen. Das fehlt uns.“ In der vergangenen Woche hat Jol via Kicker unverblümt einen „fertigen Spieler“ für die Offensive als Ersatz gefordert. „Alles andere wäre ein Witz.“ Und: „Natürlich soll es möglichst schnell gehen.“
Beiersdorfer sucht mit Hochdruck. Doch die Preise auf dem Spielermarkt sind hoch, weil viele Spieler noch auf ein Engagement bei einem europäischen Topklub hoffen, also woanders als beim HSV. Bis zum 31. August hat Beiersdorfer Zeit. Er sagt: „Bis kommenden Freitag wird sich eher nichts tun.“ Er weiß aus eigener Erfahrung, dass sich gerade kurz vor Ladenschluss noch gute Verpflichtungen realisieren lassen: Khalid Boulahrouz etwa unterschrieb am 31. August 2004, auch Tomas Ujfalusi und Joris Mathijsen kamen einst auf den letzten Drücker.
Doch Dietmar Beiersdorfer will nicht die gesamten 14 Millionen Euro aus dem Verkauf van der Vaarts für einen Neuen ausgeben. Einen Teil der Summe plant er für die Bestandssicherung ein. So soll etwa Ivica Olic seinen Vertrag vorzeitig verlängern. Doch die Verhandlungen stocken. Nach dem Pokalspiel sollte der Sportdirektor kurz sagen, wie er Olic gesehen habe. „Ein Wort zu Ivi? Gut!“, antwortete Beiersdorfer und wurde dann gefragt, ob er jetzt bereit sei, noch ein bisschen draufzulegen. „Wir können nicht immer seismografisch reagieren. Wir bemühen uns.“ Olic selbst sagte zu dem Thema nichts, wohl aber zu seiner kleinen Serie: „Letztes Mal im Testspiel gegen Juventus Turin habe ich zweimal mit links getroffen, heute zweimal mit rechts, das nächste Mal mache ich zwei Tore mit dem Kopf.“ Wenn dabei in München auch noch drei Punkte herausspringen sollten, würde Olic einen großen Beitrag dazu leisten, das Thema van der Vaart wider Erwarten doch schnell aus der Welt zu schaffen – und er würde möglicherweise Dietmar Beiersdorfer zwingen, doch noch einen Blick auf den Seismografen zu werfen. SEBASTIAN KRASS