Deutsches Wandern

Was einmal die großen Erzählungen Ost und großen Erzählungen West waren, ist ins Anekdotische und Private geschrumpelt: Im Babylon Mitte hat heute „Heimatkunde“ von Martin Sonneborn und Andreas Coerper Premiere

Wandern ist wieder in, die Entdeckung des Regionalen auch. Das hat jetzt nicht nur damit zu tun, dass das Ausland teurer und die Billigflieger knapper werden. Sondern auch mit einem Stimmungsumschwung, der Wörter wie „Heimatkunde“ immer gleich in kleinen, ironischen Anführungsstrichen denkt. Was vor, hm, zwanzig Jahren noch verdächtig piefig und rückwärtsgewandt klang, wird heute schnell als Beharrungsvermögen gegen die Identitätsverluste in Stellung gebracht, die mit der Globalisierung einherkommen.

Der Film „Heimatkunde“ von Martin Sonneborn und Andreas Coerper stiefelt diesen Trends ganz sanft und arglos hinterher, um aus vielen kleinen Details einen skurrilen Flickenteppich deutscher Befindlichkeit zu entwerfen. Gewandert wird rund um Berlin, 250 Kilometer längs der ehemaligen Grenze, die im Jahr der Wanderung 2007 immerhin schon vor siebzehn Jahren abgebaut worden war. Den Rucksack umgeschnallt hat sich Martin Sonneborn, ehemals Redakteur des Satire-Magazins Titanic und heute als Vorsitzender der Partei „Die Partei“ berüchtigt für Volten der politischen Logik. Sonneborn, der bei der Preview heute Abend im Kino Babylon Mitte dabei sein wird, ist im Bild immer sichtbar. Nicht sichtbar ist das kleine Team von Regisseur und Kameramann Andreas Coerper und Tonmeister Max von Dohna, das, wo immer Sonneborn über den Gartenzaun hinweg Gespräche sucht, an fremden Türen klingelt und sich selbst zum Kaffee einlädt, hinter ihm steht. Private Fernsehsender haben dies Eindringen in die Privatsphäre in ihren Formaten reichlich kultiviert.

Nicht gerade auf Schritt und Tritt, aber so alle fünfzehn, zwanzig Kilometer dann doch trifft der Wanderer auf auskunftsfreudige Bewohner des Berliner Rings. Vor allem sucht er nach den Ureinwohnern, die schon zu DDR-Zeiten hier lebten, von ihm aber nur selten aufzuspüren sind. Erst in Marzahn, schon halb um Berlin rum, nimmt ihn ein ehemaliger Straßenbahnschaffner mit in seine Plattenbauwohnung und in sein Hobbyzimmer. Dort steht eine Modelleisenbahn und Sonneborn wundert sich laut, warum unter den historisierenden Modellhäuschen nicht auch Plattenbauten seien. Passe nicht in die Stimmung, meint der Bahnfan, der auch nach seinen Erinnerungen an den Tag des Mauerfalls befragt wird. Noch heute ärgert er sich über die Kollegen, die an diesem Morgen nicht zum Dienst kamen.

Häufiger trifft Sonneborn auf später Zugezogene und allerlei Heimatlose und Entwurzelte: Westdeutsche in einer großen und neuen Einfamilienhaussiedlung, Wagenburgler auf einem ehemaligen LPG-Gelände, Asylbewerber in einer früheren Kaserne und Chinesen, die das chinesische Teehaus im Garten von Sanssouci zwar für sehr hübsch, aber kaum für chinesisch halten.

So richtig entspannt sind die meisten nicht bei den Gesprächen mit dem Feldforscher. Mulmig wird es vor allem einem Dorfbürgermeister, der gerade einen Platz mit zwei Bänken, einem Denkmal für die Opfer des Faschismus und vier Hundetoiletten eingeweiht hat und dem wohl erst vor laufenden Kameras dämmerte, dass mit dieser Platzmöblierung vor allem Spott zu gewinnen ist.

Der satirische Dokumentarfilm bewegt sich auf einem schmalen Grad. Denn für die Komik, die er im echten Leben sucht und findet, müssen oft die Mitspieler ihren Kopf hinhalten. Sonneborn reitet sie mit kleinen Unterstellungen auch gern ins Peinliche hinein. So bringt er am Ende einen freundlichen Chinesen dazu, lächelnd zuzustimmen, dass die Chinesen die Deutschen jetzt plattmachen wollen, wobei man deutlich sieht, dass die Zustimmung aus mangelndem Verstehen resultiert.

Ganz fair sind diese Tricks nicht, aber durch sie entsteht am Ende doch eine erstaunlich runde Erzählung von der Entwicklung im ehemaligen Berliner Grenzland. Was sich hier einstmals in Ideologien rieb, scheint nun fein zerbröselt und zersplittert in den unterschiedlichsten Träumen weiterzuleben. Und was einmal die großen Erzählungen Ost und West waren, ist ins Anekdotische und Private zurückgeschrumpelt.

KATRIN BETTINA MÜLLER

„Heimatkunde“. Premiere im Babylon Mitte, heute, 21.15 Uhr