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Archiv-Artikel

Hoffnung ist nur ein Wort

Wenn ab heute die Leichtathleten an den Start gehen, dann läuft der Verdacht immer mit. Die Kernsportart der Spiele steckt in einer Krise. Der Grund: flächendeckendes Doping

ES WAR EINMAL: BEN JOHNSON 1988 IN SEOUL

9,79 Sekunden dauerte er nur, der sehnsüchtig erwartete Showdown der Olympischen Spiele 1988 in Seoul. Länger braucht der 26-jährige Kanadier Ben Johnson nicht, um die 100 Meter zurückzulegen: Weltrekord und Goldmedaille. Für Carl Lewis, den US-Amerikaner und Posterboy der Leichtathletik, bleibt trotz persönlicher Bestzeit von 9,92 nur Silber. Der Jubel des kleinen Kraftpakets Johnson bleibt seltsam verhalten, zwei Tage später ist klar, warum: Die Dopingprobe enthüllt Stanozonol, ein Anabolikum. Es ist nicht der erste Sündenfall der Leichtathletik, aber es ist der Moment, in dem auch dem letzten Zuschauer klar wird: Die schnellsten Männer der Welt werden nicht allein von Vitaminen angetrieben.Heute weiß man, dass auch der nachträglich zum Sieger erklärte Lewis nicht sauber war. Aber Symbolfigur für den spektakulärsten Dopingfall der Olympia-Geschichte wird Johnson. Drei Jahre später macht er sich mit einem Comeback-Versuch nach abgessener Sperre lächerlich: Ein deutlich schmalerer Johnson erreicht seine alten Bestzeiten nicht einmal annähernd. 1993 wird er zum zweiten Mal erwischt und lebenslänglich gesperrt. Ein Versuch als Football-Profi scheitert ebenso wie Engagements als Konditionstrainer des Fußballvereins AC Perugia und als Privatcoach von Al-Saadi Gaddafi, dem Sohn des libyschen Diktators. 2005 lanciert Johnson eine Sportmode-Kollektion. Name der Linie: „Catch Me“. TO

AUS PEKING MARKUS VÖLKER

Ältere Semester erinnern sich noch an die glorreichen Zeiten, als man die Helden der Leichtathletik ohne Hintergedanken bewundern konnte: Sie hießen Armin Hary, Bob Beamon und Ulrike Meyfarth. Die Leichtathletik trug den Schleier der Unschuld. Wunderschön war sie anzusehen, die olympische Kernsportart. Das freie Spiel der Kräfte, das „Citius, altius, fortius“ galt als Ideal. Gut, damals ging es auch nicht mit rechten Dingen zu. Aber wer wusste darum? Heute ist klar: Das Kürzel BALCO steht für den Niedergang einer Sportart. Amerika hat seine Helden fallen sehen. Marion Jones wurde in Handschellen abgeführt. Stars wurden der Lüge überführt. Reihenweise. Russland musste fast ein Dutzend Athleten vor den Spielen mit dem Vermerk „überführt“ zurückziehen. Die Großmächte wanken.

Ein System abgekarteten Betrugs wurde sichtbar. Überall Dopingzellen, pharmazeutische Netzwerke, die den Leistungssport unterwandert hatten. Die Bay Area Laboratory Co-Operative eines Quacksalbers mit dem Namen Victor Conte hat den Glauben der Amerikaner an ihre Sprinter, Läufer und Werfer erschüttert. BALCO war ein Menetekel. Amerika hat aber schnell Ersatz gefunden. Die Schwimmer werden jetzt bejubelt. Michael Phelps bescheinigt man übermenschliche Fähigkeiten. Die Heldenverehrung ist so eindimensional und ungetrübt, dass man sich fragt, ob mit diesem Land grundsätzlich etwas nicht in Ordnung ist.

Und die Leichtathleten, die heute ihre ersten Wettbewerbe austragen, was ist mit ihnen? Sie müssen Vertrauen zurückgewinnen. „Vielleicht können wir der Sportart ein bisschen Hoffnung zurückgeben“, sagt die US-Athletin Allyson Felix, die in Peking über 200 Meter an den Start geht. Hoffnung, das ist ein schönes Wort. Nur: Wie macht man das, Hoffnung zurückgeben. Wenn das so einfach wäre. Läuft Felix schnell, wird man sie skeptisch anschauen. Läuft sie hinterher, werden sich die Sportfans in ihrem Desinteresse bestätigt fühlen.

Felix und ihre Teamkameraden müssen eine neue Ära in der US-Leichtathletik begründen. Aber wie soll das gehen, wenn Tyson Gay, der 100-Meter-Sprinter, eine unglaubliche Zeit, 9,68 Sekunden, bei den nationalen Meisterschaften in Eugene läuft, eine Zeit, die der Dopingsünder Ben Johnson in seiner Karriere nicht einmal annähernd erreichte? Wie kann das mit der Hoffnung funktionieren, wenn die US-Trainerin der Frauen, Jeanette Bolden, nichts wissen will von der Vergangenheit, diese für erledigt hält? „Wir gucken nicht zurück“, sagt sie, „das Gestern liegt hinter uns. Das geht uns nichts mehr an.“

Sanya Richards geht differenzierter an die Sache heran. Sie sagt: „Wenn jemand positiv getestet wurde, dann darf der nicht mehr an den Start gehen, wir müssen alles gegen die Betrüger tun.“ Richards läuft die 400 Meter. Die Stadionrunde ist die Disziplin, in der jeder sofort an Marita Koch und Jarmila Kratochvilova denkt. US-Läuferin Richards muss in Peking gegen die Britin Christine Ohuruogu antreten. Ohuruogu wurde wegen eines Verstoßes gegen den Antidoping-Code gesperrt, trotzdem ist sie in Peking dabei. Wie auch die US-Amerikanerin Torri Edwards und die Russin Anastasia Kapachinskaja. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) hat nur die Griechin Katerina Thanou aussortiert; sie hatte es mit Konstantinos Kenteris dann doch zu wild getrieben, seinerzeit in Athen.

Die British Olympic Association (BOA) hat Ohuruogu lebenslang für Olympia sperren wollen, weil sie dreimal für Dopingkontrolleure nicht erreichbar war. Die Athletin setzte ihren Start schließlich juristisch durch. Sie ist ein Symbol für die Verwässerung der Statuten. Abschreckung sieht anders aus. Richards findet das offenbar unproblematisch. Demonstrierte sie eben noch Unnachgiebigkeit im Umgang mit Dopern, so hat sie für die Britin Verständnis: „Es war ein besonderer Fall“, sagt sie. „Keine normale Dopingsache.“ Sie tut der siechen Leichtathletik mit diesem Satz keinen Gefallen.

Eike Emrich, Vizepräsident des Deutschen Leichtathletik-Verbandes, hat derweil keine Gnade mit Tricksern. Auf die Frage, was er davon halte, dass elf Russen aufgeflogen sind, antwortet er: „Nur elf?“ Ihm ist nicht jedes Mittel recht, um Erfolg zu haben. „Erfolg, gemessen an Medaillen, ist nicht der letzte Maßstab. Ich möchte Erfolg an Leistung bemessen.“ Persönliche Bestzeiten seien auch aller Ehren wert. In Athen haben die Deutschen nur zwei Medaillen gewonnen. Es war die schlechteste Ausbeute seit Jahren. „Wir wollen mindestens dieses Ergebnis erreichen“, sagt Emrich. Es ist ein bescheidenes Ziel, das er da ausgegeben hat. Die Hochspringerin Ariane Friedrich könnte eine Plakette gewinnen, vielleicht der Diskuswerfer Robert Harting, die Speerwerferin Christina Obergföll oder mit viel Glück einer der Stabhochspringer.

Die US-Amerikaner werden im Olympiastadion mit dem Zählen der Medaillen wohl kaum nachkommen. Es ist das überzeugendste Mittel, die US-Fans zurückzugewinnen. Sanya Richards will ihren Beitrag leisten und Gold holen. Dann erzählt sie eine jener rührenden Geschichten, die sich so gut verkaufen in der Medienlandschaft: Wochenlang habe sie unter einer mysteriösen Krankheit gelitten. Sie habe nicht mehr gehen und sprechen können. Mit handschriftlichen Notizen auf Zetteln habe sie sich verständigen müssen, bevor sie endlich an einen New Yorker Arzt geriet, der Morbus Behçet diagnostizierte, eine chronische Störung des Immunsystems, die zu Gefäßentzündungen im ganzen Körper führen kann.

Sanya Richards ist ein Fall für die pharmazeutische Industrie geworden. „Ich habe endlich die richtigen Tabletten gefunden“, sagt sie und schaut glücklich in die Runde. So offen spricht selten jemand über wundersame Pillen.