: Verliere, um gewinnen zu können!
Harmonie hat die zusehends zersplitterte chinesische Gesellschaft bitter nötig. Wie gut, dass es Wushu gibt, die traditionellen Kampfkünste: Sie verbinden auf sportliche Weise ihre Anhänger über alle Schichten, Professionen und Altersklassen hinweg – und das schon seit Jahrhunderten
Ob „Acht-Triagramme-Boxen“, „Schwertstil des höchsten Urprinzips“ oder „Fünf-Tiere-Qigong der Wudang-Berge“: sie alle gehören zur Familie der chinesischen Kampfkünste. Die heute gebräuchlichen Begriffe „Wushu“ (Kampfkunst) und „Gongfu“ (sich durch Arbeit Fertigkeiten erwerben) stammen aus dem 20. Jahrhundert.Die Ursprünge der Kampfkunst liegen zum einen in der Kriegskunst, zum anderen in den meditativen Atempraktiken zur Lebensverlängerung der chinesischen Naturphilosophie, dem Daoismus. In der Tang-Dynastie (618–906 n. Chr.) ließen die Kaiser erstmals ihre Truppen in Kampfkunst ausbilden. Rund 100 Jahre später entstanden die ersten Klubs von Kampfkünstlern. Das Aufblühen zahlreicher neuer Schulen setzte einen teils staatlich gelenkten, teils von den Meistern selbst geförderten Klassifizierungsprozess in Gang. Die beiden Grundkategorien neigong – „innere (Kampf-)Fertigkeiten“ – und waigong – „äußere (Kampf-)Fertigkeiten“ – haben bis heute Bestand. Qigong und auch Meihuaquan mit Betonung auf Verteidigung und Ruhe zählen zu den Ersteren, der Shaolin-Stil als schnelle, auf Kampf orientierte Richtung zu Letzteren. Bis heute ist Wushu ein Teil der chinesischen Militär- und Polizeiausbildung. Auf Wunsch Chinas findet parallel zu den Olympischen Spielen vom 21. bis 24. August ein internationaler Wushu-Wettbewerb statt. 128 Athleten aus 43 Ländern und Regionen werden erwartet. KK
AUS PEKING KRISTIN KUPFER
Wie der Blitz schnellt Ma Chengxiangs rechter Arm nach vorne. Der 62-Jährige in blauer Trainingshose und weißem T-Shirt stoppt seine flache Hand vor den Augen seines fast 30 Jahre jüngeren Gegenübers und wedelt zweimal durch die Luft. Yue Jungang, Abteilungsleiter für erneuerbare Energien bei der Firma China National Petroleum Corporation, blinzelt angesichts der wedelnden Hand von Ma. Der macht einen Schritt auf seinen Schüler zu und streckt ihn mit einem Fußfeger zu Boden.
Yue fällt auf die noch vom Regen feuchte Erde zwischen den Akazienbäumen in einem Wald in Yizhuang, einem südlichen Vorort von Beijing. „Das Gegenüber erst aus dem inneren, dann aus dem äußeren Gleichgewicht bringen“, sagt Ma, „darum geht es beim Meihuaquan.“ Die 20 um ihn herumstehenden Männer und Frauen nicken stumm.
Ma veranstaltet keine Managerseminare, sondern lehrt Meihuaquan – auf Deutsch „Pflaumenblütenboxen“ – eine von über 100 Schulen der traditionellen chinesischen Kampfkünste. Trotz unterschiedlicher Namen, Bewegungen und theoretischer Schwerpunkte (s. Kasten) vereint jede Schule immer beides, Kampf und Kunst, Schnelles und Langsames, Hartes und Weiches. Wer Wushu – so der chinesische Begriff – praktiziert, trainiert nicht nur seinen Körper, sondern auch seinen Geist.
Die Kampfkünste zielen auf Harmonie durch Ausgleich und Vereinigung von Gegensätzen. Das gilt auch für ihre Rolle innerhalb der zunehmend zersplitterten chinesischen Gesellschaft: Sie verbinden ihre Anhänger über alle Schichten, Professionen und Altersklassen hinweg. Kurz nach Sonnenaufgang vollführen Senioren in Parks die weichen und fließenden Bewegungen der Taijiquan- oder Qigong-Stile. Am Wochenende schließen sich ihnen auch jüngere Leute an. Die auch in China wichtigste Frage, um andere einzuordnen – „Was machst du beruflich? – ist unwichtig. Das Interesse an Wushu schafft eine gemeinsame Identität.
Die Kampfkünste sind mystisch-philosophischen Ursprungs, doch im China der schnellen Veränderungen ist ihr Grundgedanke der Harmonie aktueller denn je. Beispiel Meihuaquan: ein Weiser namens „Wolkenschüssel“ hat es der Legende nach rund 1000 v. Chr. in den Kunshan-Bergen an der chinesisch-nepalesischen Grenze geschaffen. Die weichen, kreisenden Bewegungen symbolisieren die Harmonie des Menschen mit der Natur. Sie ist in der chinesischen Philosophie des Daoismus von wesentlicher Bedeutung und äußert sich im Zusammenspiel der beiden Urkräfte Yin und Yang. Gegensätzlich wie Tag und Nacht oder hell und dunkel, brauchen sie einander und gleichen sich aus. „Manchmal musst du erst verlieren, um gewinnen zu können“, übersetzt Ma Chengxiang dies für das Alltagsleben. „Es ist eine Lebensphilosophie, eine Schulung der Persönlichkeit“, sagt Ma, „Nicht primär für den Kampf, sondern für das alltägliche Leben.“
Vielleicht ist es das, was gerade auch die jüngere Generation zum Wushu treibt, meint er. Jeden Sonntagmorgen gegen 9.30 Uhr versammeln sich mal mehr, mal weniger seiner offiziell 20 Schüler in dem Wald in der Nähe seiner Wohnung. Bei schlechtem Wetter trainieren sie in einer Garage. Neueinsteiger und Gäste jeder Art sind herzlich willkommen. Offiziell Schüler zu sein fordert weder Anwesenheitspflicht noch Unterrichtsgebühr. Jedoch verpflichten sich die Studenten, Angestellte oder Freiberufler, die Tradition des Meihuaquan zu achten und zu pflegen. „Nach unserer alten Meistertradition sehe ich mich nicht nur als Trainer, sondern auch als eine Art Vater“, erklärt Ma. Er fragt nach, wenn jemand traurig aussieht oder mehrmals nicht kommt. Der pensionierte Meteorologe hat ein herzliches Lachen und einen durchdringenden Blick.
Wenn er nicht auf Geschäftsreise unterwegs ist, kommt sein Schüler Yue Jungang jeden Sonntag zu Mas Unterricht. Vormittags übt er mit der Gruppe Grundformen und die Anwendung im Kampf. Er lauscht andächtig Mas Gedanken über „Entschlossenheit und Flexibilität“ oder „Konzentration in der Leere“. Nach dem gemeinsamen Mittagessen diskutieren alle über buddhistisch-daoistischen Grundlagen des Stils. Dafür nimmt der ruhige Abteilungsleiter mit einem MBA-Abschluss von der Eliteuniversität rund anderthalb Stunden Fahrt in Kauf. „Von Lehrer Mas Lebenserfahrungen kann ich viel lernen“, sagt Yue, „und Meihuaquan gibt mir auch viel innere Kraft.“ Was das genau ist, kann er nicht gut erklären. Dazu sei er wohl noch nicht weit genug im Verständnis, meint Yue. Er hat vor 12 Jahren als Student mit Meihuaquan begonnen. Yue faszinierte neben der spürbaren geistigen Erfrischung und Ruhe auch die Verflechtungen von Meihuaquan mit der chinesischen Tradition. Er hat seitdem viel über die Bedeutung der Kampfkünste am Kaiserhof und als sozialer Kitt unter der einfachen Bevölkerung gelesen. Dass Wushu zur Persönlichkeitsbildung beiträgt, glaubt auch Frau Zeng. Die 73-Jährige hat vor acht Jahren angefangen, sich im „Hunyuan Taijiquan-Stil des Großmeisters Chen“ zu üben. Ihre Mutter war damals gerade gestorben und die Rentnerin fühlte sich leer und nutzlos. Zudem machten ihr Knieschmerzen zu schaffen. Beim Spaziergang durch den Erdaltar-Park unweit ihrer Wohnung im Nordosten Beijings stieß sie zufällig auf die Taijiquan-Gruppe und machte mit. Die Bewegungen und das ungezwungene Plaudern taten ihr gut. „Mir ging es zunächst darum, geistig und körperlich fit zu bleiben“, sagt die drahtige Rentnerin mit dem kaum ergrauten Haar.
Später interessierten sie auch die anderen Elemente des Hunyuan-Taijiquan-Stils, Selbstverteidigung und die Kultivierung eines ausgeglichenen Charakters. Ihr Lehrer Feng Zhiqiang, Meister und Begründer der Schule, kommt nur selten zum Training. Er lehrt in China und der ganzen Welt, erzählt Zeng. Deshalb liest sie viel in Büchern oder surft im Internet. Das könne sie locker, lacht Zeng.
Jeden Morgen um sechs kommt sie in den Erdtempelpark und wärmt sich durch schnelles Gehen auf. Bevor sie später mit der Gruppe von rund 30 meist Älteren zusammen übt, trainiert Zeng zwischen Kiefern und Zypressen den langsamen Zyklus der 24 Formen zunächst alleine. Ihre Arme und Beine scheinen sich wie von selbst fließend durch die Luft zu bewegen. Die alte Dame ist in sich versunken.
Ihr Blick ist leer und nimmt weder neugierige Spaziergänger noch vorbeilaufende Hunde wahr. Nach rund einer halben Stunde reibt sie sich die Hände. „Mir ist wohlig warm“, lacht sie, „von außen und von innen.“
Etwas Religiöses habe Wushu schon auch an sich, meint sie. Es erinnert sie ein bisschen an den Zauber eines Betrituals. Als Grundschülerin hat sie eine katholische Missionarsschule in ihrer Heimatprovinz Shandong im Osten Chinas besucht. Aber das mit der Religion dürfe man nicht zu laut sagen, meint Zeng. Seitdem die buddhistisch-inspirierte Qigong-Schule Falun-Gong nach einer Großdemonstration im April 1999 als „böser Kult“ verboten wurde, achten alle Wushu-Schulen darauf, nicht als Sekte oder religiöse Gruppe unter Verdacht zu geraten.
Falun-Gong hatte eine enorme Organisationskraft bis hin in die höchsten Parteispitzen entwickelt. Seitdem steht Beijing einer Sozialisierung durch Kampfkünste skeptisch gegenüber. Die Regierung stellt sie lieber als nationales Kulturgut und internationales Prestigeobjekt dar.
Das Wichtigste, was sie durch das Praktizieren von Wushu gelernt habe, sei, mit ruhigem Herzen und Geist den Dingen ins Auge zu sehen, sagt Frau Zeng. Da klingt sie genau wie Ma Chengxiang und sein Schüler Yue Jungang, die Meihuaquan üben. Frau Zeng kennt diese Schule. „Die haben einen anderen Schwerpunkt, aber unter dem Dach von Wushu sind wir alle eine große Familie“, sagt Zeng und spaziert festen Schrittes auf ihre Mitübenden zu.