: Der Star der Spiele
Er schwebte durch das Stadion und entzündete in Peking das olympische Feuer. China hat den Unternehmer und ehemaligen Turner Li Ning zum Star der Spiele gemacht. Zu Recht
Drei olympische Stationen symbolisieren Aufstieg, Fall und Wiederaufstieg im Leben von Li Ning. Bei den Spielen von Los Angeles im Jahr 1984 nimmt die Volksrepublik China nach langer Pause wieder an den Sommerspielen teil und Li Ning – mit drei Gold-, zwei Silber- und einer Bronzemedaille im Turnen – ist ihr herausragender Athlet. China erlebte den ersten sportlichen Goldrausch seiner Geschichte, Li ist nach dem Tod Mao Tse-tungs ihr erster Held nicht von kommunistischen Gnaden. Doch bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul fällt der Held von den Ringen und geht ohne Medaille heim. Darauf war die Nation nicht vorbereitet, für sie musste ein Held lebenslang ein Held bleiben, und sie empfand Schmach und Gesichtsverlust. Also wurde Li wie ein Deserteur behandelt. Zur Strafe musste er sein Leben neu erfinden – aber Li gelang das als Unternehmer. Auch deshalb durfte er als letzter Fackelläufer bei den Spielen in Peking das olympische Feuer entzünden. Jetzt vereinte Li Ning in einer Person den sportlichen und den wirtschaftlichen Erfolg, und einen sagenhaften Aufstieg aus einfachen Verhältnissen, also etwas, womit sich das offizielle China heute gerne schmückt. Doch Li steht noch für viel mehr. Er ist heute teils Hausmann und seine politischen Auffassungen, wie zur Abschaffung der Todesstrafe, sind zum Teil im eigenen Land provokant. Die Chinesen werden ihn noch einmal neu kennenlernen. Unsterblich ist er für sie sowieso schon. GBL
AUS PEKING GEORG BLUME
Wer war der chinesische Superstar der Spiele? Nicht der Hürdenläufer und Goldmedaillengewinner von Athen, Liu Xiang, der verletzt aufgeben musste. Nicht der chinesische Basketballstar Yao Ming, der mit seiner Mannschaft früh im Wettbewerb ausschied. Und auch nicht einer der vielen neuen chinesischen Goldmedaillengewinner, die über China hinaus namenlos blieben. Es gibt nur einen Chinesen, der nach diesen Spielen den meisten in Erinnerung bleiben könnte: der letzte Fackelläufer, Li Ning.
Wie er getragen von fast unsichtbaren Fäden einer Marionette gleich am Himmel die Stadionrunde lief, mit langem Schritten, die ihm offensichtlich Mühe bereiteten, wie er schließlich vor dem Dunkel der Nacht das olympische Feuer entzündete, wird Li Ning für die Chinesen, aber auch für viele Fernsehzuschauer in aller Welt unvergessen bleiben. Er verkörpert den historischen Moment, in dem sich China, das größte Volk der Welt, im neuen Gewandt des 21. Jahrhunderts vor der Welt präsentiert. Aber er ist auch nur ein Mensch mit seiner persönlichen Biografie. Vielleicht aber wird die sich jetzt herumsprechen. Nicht viele kennen sie, auch in China wissen die meisten von Li oft nur, dass er ein herausragender Turner war, drei Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles gewann und später eine Sportartikelfirma unter seinem Namen gründete. Dabei gibt es so viel über ihn zu erzählen, das alles dazu taugt, ihn wirklich als Idealbesetzung der Superstarrolle bei diesen Spielen zu betrachten.
Li Ning wurde 1963 als Sohn einer Lehrerfamilie in der armen südchinesischen Provinz Guangxi geboren. Als er sieben Jahre alt ist, geben ihn seine Eltern an eine Sportschule. Nicht weil sie von einer großen Sportkarriere ihres Sohnes träumen, sondern weil die normalen Schulen schlecht ausgerüstet sind und ihnen die Sportschule als eine der wenigen Möglichkeiten für eine bessere Ausbildung erscheint. Li Ning kommt von ganz unten.
Mit 17 Jahren, im Jahr 1980, nimmt ihn die nationale Turnmannschaft auf. Er hat damals Glück, er gilt noch nicht als Supertalent. Doch zwei Jahre später, mit 19, feiert er den Durchbruch: Bei der Weltmeisterschaft im Turnen gewinnt er sechs von sieben möglichen Goldmedaillen. Er bekommt regelmäßig die Höchstnote 10,0. Viel später wird ihn der Weltverband der Sportjournalisten neben Pelé, Michael Jordan und Muhammad Ali zu einen der besten 100 Sportler des 20. Jahrhunderts wählen. Nicht weil er so viele Medaillen gewann, sondern weil er zwei Jahre lang, von 1982 bis 1984, so perfekt turnte wie keiner zuvor. Es passte auch in die Zeit: Anfang der 80er-Jahre werden die ersten Erfolge der liberalen Marktöffnungspolitik von Deng Xiaoping in der Landwirtschaft sichtbar.
Doch schon bald beginnt Lis sportlicher Abstieg, der bei den Olympischen Spielen in Seoul 1988 zum nationalen Drama avanciert, als er von den Ringen fällt und keine Medaille mehr gewinnt. Plötzlich ist der 25-jährige Li nicht mehr Nationalheld, sondern Vaterlandsverräter. „Er wurde zum historisch Schuldigen herabgesetzt, zu jemanden, der die Gefühle des Volkes verletzte“, schreibt heute die chinesischen Wochenzeitung Nanfang Zhoumo selbstkritisch. Damals aber fiel Li zur gleichen Zeit wie sein Land in die Krise. Die Reformen stagnierten, die Studenten demonstrierten, Li heuerte im Mai 1989 bei einem unbekannten Getränkehersteller namens Jianlibao in der kleinen Kreisstadt Sanshui in der Provinz Guangdong an. Sein Schicksal erschien genauso besiegelt wie das der Studenten auf dem Tiananmenplatz. Heute sagt Li: „Rückblickend war die Niederlage für mich sinnvoller als ein Erfolg. Ohne jene Niederlage gäbe es heute keine Marke Li Ning.“ Tatsächlich wird der Chef der kleinen Getränkefirma, Li Jingwei, für ihn zum wichtigsten Lehrer nach seinem Turntrainer. Er bringt ihm bei, eine Firma zu führen. 1990 lässt Li Ning die Sportartikelfirma seines Namens registrieren, noch als Tochtergesellschaft von Jianlibao. Erst versucht er es nach chinesischer Tradition, lädt Bruder, Schwäger, Vetter und befreundete Turner in die Firma ein. Doch seine ersten Turnschuhe entsprechen nicht dem gängigen Standard und verkaufen sich nicht. Mit 29 beschließt Li, seine Ware zu verramschen und Familie und Freunde aus der Firma zu schmeißen. Er stellt professionelle Manager ein. „Als Sportler war ich der Beste, alle setzten ihre Hoffnungen auf mich. Im Unternehmen ist es umgekehrt: Ich setzte die Hoffnungen auf meine Leute. Ohne sie bin ich nichts“, erkennt Li.
So beginnt 1993 der bis heute währende Aufstieg der Firma – wieder parallel zu Gesamtentwicklung des Landes, das nach der berühmten Südchina-Reise von Deng Xiaoping im Jahr 1992 zur Reformpolitik zurückfindet. Erst jetzt wird das freie Unternehmertum in den Städten erlaubt, und Li ist in China Unternehmer der ersten Stunde.
Von nun an sind die Rückschläge – wie etwa in der Asienkrise 1997 – nicht mehr existenzbedrohend, sondern konjunktureller Natur. Li spürt das und vertraut seinen Managern die Firma an. Schon 1998 findet er Zeit für ein Jura-Studium an der Peking-Universität. Obwohl zehn Jahre älter als die meisten anderen, reiht er sich unter die Studenten ein, isst mit ihnen in der Mensa, paukt wie sie für die Prüfungen. Er macht im Jahr 2000 seinen ersten Abschluss und denkt erneut über die Gesellschaft nach. Erfolge im Sport und im Unternehmen verlieren für ihn an Bedeutung. Er sieht jetzt die Ungerechtigkeit in der Gesellschaft.
Er entscheidet sich, seine Fabriken abzustoßen, weil er die sozialen Bedingungen in ihnen nicht verändern kann, aber auch nicht für sie verantwortlich sein will. Er will lieber weniger Mitarbeiter, die er ordentlich bezahlt. Also beschränkt er die Tätigkeit seiner Firma auf Vertrieb und Verkauf. Dabei spielt auch eine Rolle, dass die westliche Konkurrenten Nike und Adidas ähnliche Firmenstrukturen haben. Li Ning folgt ihnen. Er gibt als Unternehmensziel vor, sich bis 2008 auf China als wichtigsten Markt zu konzentrieren, bis 2013 den internationalen Markt zu erschließen und bis 2018 einer der fünf größten Sportartikelhersteller der Welt zu werden. Er liegt wieder im Trend seiner Zeit: China entwickelt seit dem Jahr 2000 langsam ein Bewusstsein für die sozialen Folgen der Reformen – und steht zugleich mitten im Sturm der Globalisierung.
Li hält das nicht ab, privater und politischer zu werden. Er bekennt sich in einem Interview mit dem Autor zur Abschaffung der Todesstrafe. Er formuliert seine Vorstellungen von einem Rechtsstaat, wie er in China noch nicht existiert, aber seiner Meinung nach für die zukünftige Entwicklung des Landes unabdingbar ist. Er kritisiert die Korruption im Einparteiensystem. Aber er tut das leise, meist nur im privaten Gespräch. Das Wichtigste ist ihm jetzt die Familie. Er wird kurz nach der Jahrhundertwende Vater eines Sohnes. Er spielt mit ihm auf dem Spielplatz hinter seinem Pekinger Apartmenthaus. Später kommt noch eine Tochter hinzu. Die Familie zieht nach Hongkong, um ihren Kindern eine bessere Schulerziehung zu ermöglichen.
Als ihn dort in diesem Frühjahr ein chinesischer Reporter trifft, bringt Li Ning gerade seinen Sohn zur Schule. Der Reporter fragt ihn, warum er sich aus dem Alltagsgeschäft seiner Firma zurückgezogen habe. Li Ning antwortet: „Ich bin ein Mensch, der nach Freiheit strebt. Ich will Verantwortung tragen, aber auch ein eigenes Leben führen.“
Es wäre schön, wenn Li Ning wieder im Trend läge. Wenn die Olympischen Spiele in Peking ein Zeichen gewesen wären, dass die Chinesen nach mehr Freiheit streben. Dass sie gewillt sind, in der Welt Verantwortung zu tragen und zugleich ihre eigene Kultur pflegen. Immerhin aber haben sie schon den richtigen Mann zum Star der Spiele gemacht.