: Was vom Sommer bleibt
Das Einmachen erinnert an die Zeit, als der Vater das Geld verdiente, aber die Mutter das Vermögen zusammenhielt und die Familie durchbrachte. Würdigung einer alten Kunst
VON TILL EHRLICH
In den Neunzigern überrollte mich manchmal die Schwermut. So blätterte ich in alten Heften von essen & trinken, las Headlines wie „Einmachen mit Herz“ oder „Eingemachtes ist das schönste Geschenk“. Die stundenlang ausgeleuchteten Foodfotos sollten mich retten mit ihren funkelnden Einmachgläsern, dekoriert mit Blüten, Glaskugeln und goldenen Schleifchen, drapiert auf klein karierten Tüchern.
Es war die mediale Steinzeit vor Quark Xpress, Photoshop und Internet, als ein Food-Artdirector noch ein mächtiger Despot sein konnte, wohl zwanzigtausend D-Mark im Monat verdiente und die Redaktion wochenlang piesackte, bis das vermeintlich perfekte Arrangement für jedes Kompottglas gefunden war. Mit diesem Gemisch aus Kleinkariertem und Laisser-faire kündigte sich der neue Historismus der späten Kohl-Jahre an, und wir merkten dabei nicht: Es geht ans Eingemachte.
Das Einmachen erlebte seine letzte Hochphase in der Wirtschaftswunderzeit, als Frauen zwischen Hausmutter, häuslicher Herrscherin und zurechtgemachter Küchensklavin eingestellt waren und gekonnt nachwiesen, dass zwar der Mann das Geld verdiente, aber die Mutter das Vermögen zusammenhielt und die Familie durchbrachte. Das kleine Resultat des großen Fleißes wurde höchstens zu Weihnachten anerkannt, wenn als Nachtisch – auch das klingt heute fremd – Mutters eingemachtes Erdbeerkompott aufgetischt wurde. Dann hörte man mal eine kurze Bemerkung wie „Lecker, Mama“.
Die Idee des Einmachens kommt aus der Zeit, als der Winter noch ein Warten auf den Frühling bedeutete. Es gab weder Gefrierschränke noch Tiefkühlkost. Keinen Thai-Spargel, keine Äpfel aus Argentinien und keine Erdbeeren aus Brasilien. Das Anlegen von essbaren Vorräten oblag den Hausfrauen, die meist einen ganzen Sommer lang und bis weit in den Spätherbst mit dem Konservieren von Obst und Gemüse beschäftigt waren. Ständig wurde irgendetwas gepellt, geputzt, geschnippelt, gezuckert, gesäuert, gesalzen und in Einkochgläser und Steinguttöpfe gefüllt.
Die Früchte wurden so eingemacht, wie sie reif wurden. Es begann mit Erdbeeren und Spargel, endete mit Pilzen, duftenden Quitten und späten Apfelsorten im Herbst. Am Ende, wenn die ersten Fröste kamen, gab es meist immer noch etwas, was nicht reif war; man konnte es nicht essen, doch zum Einmachen war es noch zu verwenden. So wurde aus unreifen Kürbissen, Gurken und grünen Tomaten saures Essiggemüse. Die Hausgärten waren so angelegt, dass sie aus verschiedenen Sorten bestanden, die nacheinander reif wurden. So gab es von August bis November durchgängig Obst und Gemüse für die verschiedensten Zwecke. Etwa Äpfel für den Kuchen, für Mus, Most, Wein und Schnaps, für Marmelade, Kompott und Gelee oder zum Dörren und Einlagern. Die Äpfel hatten Namen wie Schöner aus Nordhausen, Herbstprinz, Goldparmäne, Schafsnase, Dickstiel, Dülmer Rosenapfel, Roter Trierer Weinapfel, Zitronenapfel und Ingrid Marie.
„Ohne das Eingemachte hätten wir den Krieg nicht überlebt“, pflegte meine Großmutter zu sagen, nicht ohne zu erwähnen, dass sie, als ihre Stadt bombardiert war und die Ruhr um sich griff, auch Wasser eingekocht hatte. Hier machte sie einen Schlenker zum „Russen“. Der „Russe“ habe in ihrem Keller gewütet, Soldaten hätten Schnaps im Eingemachten gesucht. Mehrere hundert Gläser geöffnet und doch nur Kompott und Holundersaft gefunden. Und dabei, erzählte die Großmutter jedes Mal mit schriller Stimme, hätten sie ihren Schatz, das Stachelbeer-, Kirsch-, Birnen- und Pflaumenkompott, auf den Boden gekippt.
Das Eingemachte erinnerte im Winter an den Sommer. Die Qualität hing von der Reife der Früchte ab. Der Inhalt von Gläsern mit den am schönsten gereiften Früchten galt als kostbar. Es war der Beweis dafür, dass man die köstliche Reife konservieren und so die Geschmacksfülle und Aromatik der vergänglichen Früchte bewahren konnte. Solche Gläser wurden zugeteilt und aufgespart, verrieten Kleinkariertheit, Geiz und Macht. „Nasch nicht!“ oder „Du hast jetzt genug!“, ermahnte die Mutter.
Doch das Einmachen hatte auch eine weniger begehrte Seite. Das waren die Gläser, in denen unreifes Obst und Gemüse eingemacht worden war. Das verkörperte die Sparsamkeit und Verwaltung. Diese Seite des Einmachens führt heute die Konservenindustrie fort. Auch in den gängigen Frischobst- und Gemüsesortimenten ist das Usus. Aus Haltbarkeitsgründen wird unreif Gepflücktes verkauft, und man muss den Obstsalat nachzuckern, weil die natürliche Fruchtsüße fehlt.
Weil beim Einmachen alles an der Reife hängt, kommt man mit Messen und Zählen nicht weit, wenn man Ansprüche an den Geschmack stellt. Wie kompliziert das ist, sieht man daran, dass fast alle Marmeladen und Konfitüren zu süß schmecken und Süßsaures eher banal süß als anregend säuerlich schmeckt. Oft wird strikt nach Rezeptur verfahren und ignoriert, dass jede Fruchtsorte ihre geschmacklichen Eigenarten hat, gar nicht zu reden vom Reifezustand, in dem sich die Frucht beim Ernten befindet. Gekaufte Früchte sind in der Regel unreif oder bestenfalls am Beginn ihrer Genussreife. Diese ist aber noch nicht die Hochreife, der Zustand der größtmöglichen Intensität des Geschmacks, in dem die Frucht ihr Potenzial erfüllt.
Wenn man den Moment größter Geschmacksentfaltung erwischen will, kommt man eher mit Proportionen weiter. Diese sind mit irrationalen Zahlen vergleichbar, weil sie als Relationen ganz genau sind, doch nominal unsagbar. Ein „Prise“ ist etwas, was einer irrationalen Zahl gleicht. Die Prise ist bekanntlich das, was man zwischen zwei Fingern hält; etwas, was man spüren muss. Mit einem Teelöffel geht das nicht, weil man im Löffel kein Gefühl hat. Auch „ungefähr“ oder das „Etwas“ entsprechen irrationalen Zahlen. „Etwas“ Kümmel in die Dillgurken zu streuen, das ist eine Menge, die man nur mit Gespür herausfinden kann. Dabei muss man Rücksicht auf andere Qualitäten nehmen. Etwa auf die Säure, deren Wahrnehmung wiederum von der Konsistenz und dem Mineralgehalt der Frucht abhängt. Je weniger Säure eine Frucht hat, desto stärker kann man ihre Mineralität wahrnehmen.
Eine vollreife, weiche Marille (Aprikose) erfordert beim Einmachen „etwas“ weniger Zucker, als eine unreife, feste. Auch die Konsistenz der Marille bedingt die Wahrnehmung ihrer Fruchtsäure. Würde man sich hier an numerische Relationen halten, käme man mit der Geschmacksbildung wohl kaum voran.
Eine rationale Zahl wie ph-Wert 3,7 hilft beim Einmachen nicht. Man kann daraus keine Rückschlüsse auf den Geschmack und seine Relationen ziehen, weil die Säure eine empfundene, keine gemessene ist. Die Marille kann einen hohen analytisch gemessenen Säurewert haben, aber trotzdem nicht sauer, sondern harmonisch schmecken. Umgekehrt kann sich eine Marille mit einem niedrigeren Säurewert im sensorischen Vergleich als echter Säuerling outen. Für das Geschmacksempfinden ist nur die empfundene Säure von Belang, kaum die im Labor messbare. Die Zunge ist ein Sinnesorgan, kein Messgerät.
Die Irrationalität der Relationen wirft einen auf die Gewissheit der Intuitionen zurück. Auch beim Marmeladekochen. Die Regel sagt, dass man auf das Gesamtgewicht der Früchte die Hälfte Zucker gibt. Doch wenn die Aprikosen schön reif sind, ist dass zu viel, die Konfitüre schmeckt plump, der klebrige Zuckerpapp überdeckt die feinsäuerliche aprikosige Frische. Resultat ist eindimensional süßer Geschmack, von dem man schnell genug hat.
Die Kunst des Einmachens besteht wohl darin, den Punkt zu erwischen, an dem es schmeckt und zugleich die Konsistenz noch erhalten ist, sodass die Frucht nicht zerkocht ist. Eingemachtes bekommt man immer mit Zucker oder Säure konserviert, doch ein Zuviel tötet den Geschmack. Man kann die schönste Frucht zu Tode sterilisieren. Das Eingemachte im Glas ist nicht die aufbewahrte Materialität der Frucht. Also keine Mumie, sondern ein Artefakt, das beim Genuss an die Frucht erinnert.
TILL EHRLICH, Jahrgang 1964, serviert einmal im Monat die taz-Sättigungsbeilage