Berliner Ökonomie
: Die Ansteckungsgefahr erhöhen

„Wir begreifen noch so gut wie gar nichts“ (Rudolf Virchow). Der Mediziner hatte allerdings mit Ansteckungstheorie nichts am Hut

Im Berliner Zentrum für Literaturforschung sprach Sylvia Sasse neulich über „Tolstois Theorie der Ansteckung“, die sie eine „Moralische Infektion“ nannte. 1948 veröffentlichte Paul Parin, der zuvor als Arzt bei den „Tito-Partisanen“ gearbeitet hatte, in der Schweiz einen psychiatrischen Bericht über die in Jugoslawien nach dem Krieg bei demobilisierten Partisanen massenhaft aufgetretene „Partisanenkrankheit“, die er als hysterische bzw. epileptische „Kampfanfälle“ bezeichnete. Sie bedeuteten für ihn das Gegenteil einer „Kriegsneurose“: Während diese den davon heimgesuchten vor weiteren Fronteinsätzen schützt, legte jene nahe, dass der oder die an ihr Erkrankte nicht mit dem Kämpfen aufhören kann bzw. will. Das betraf damals etwa 120.000 zumeist junge, ungebildete, vom Land stammende Partisanen (ein Drittel davon waren Frauen), die man demobilisiert und entwaffnet hatte und nun nach Hause schicken wollte, wo sie eine ungewisse Zukunft erwartete: ihre Dörfer waren zerstört, ihre Eltern vielleicht tot oder verschleppt.

Die Partisanenkrankheit war zuvor auch schon von Nadeschda Mandelstam beobachtet worden: 1922 fuhr sie mit ihrem Mann nach Suchumi – auf dem Schiff befanden sich viele demobilisierte Leichtverwundete, die aus dem Bürgerkrieg zurückkehrten, und ständig kam es unter ihnen zu solchen „Kampfanfällen“. Zuletzt berichtete die Schweizer Ärztin Ursula Hauser von ähnlichen Symptomen. Sie hatte in Costa Rica ein psychoanalytisches Institut aufgebaut und in Nicaragua Miskito-Indianer behandelt. Diese waren früher von wiedertäuferischen Brüdergemeinden beeinflusst worden, hatten ansonsten jedoch derart isoliert gelebt, dass sie sich primär durch Inzest vermehrten. Ihr Stamm wurde dann in zwei Teile geteilt: die einen schlossen sich den Sandinistas an, die anderen den Contras. Nach Beendigung des Bürgerkrieges kam es unter ihnen ebenfalls zu einer, der Partisanenkrankheit ähnelnden, „ansteckenden Neurose“, die es natürlich gar nicht geben kann, wie Paul Parin meint.

Von „Ansteckung“ redet auch der Soziologe Roger Caillois in seinem Buch „Méduse & Cie“, in dem es um die „Mimese“ geht, die er als tierisches Pendant zur menschlichen Mode begreift. Beides gründet für ihn „auf eine undurchsichtige Ansteckung“. Gilles Deleuze und Félix Guattari sprechen bei der Banden-, Meuten- und Schwarmbildung von „Ansteckung“, insofern es dabei um ein „Werden“ geht. Dieses kommt durch Bündnisse zustande: „Werden besteht gewiss nicht darin, etwas nachzuahmen oder sich mit etwas zu identifizieren. […] Das Werden ist eine Vermehrung, die durch Ansteckung geschieht. So wie beim Vampir – der sich ja auch nicht fortpflanzt, sondern ansteckt.“

Dies scheint mir, bei allem Respekt vor marxistischen (politökonomischen) Analysen, auch für die 68er-Studentenbewegung zu gelten, die sich unter anderem in Frankreich und Italien mit den Arbeitern verbündete. Es gab kaum ein Land, das nicht von dieser Protestbewegung erfasst wurde. Und das geschah eben auf dem Wege der Ansteckung: über die Protestformen, -moden, -musiken, ihre mediale Verbreitung und durch direkten Kontakt mit den Protestierenden selbst. In wissenschaftlicher Hinsicht kann es so etwas wie eine „ansteckende Neurose“ nicht geben, dennoch kennen wir solche Phänomene schon seit langem: im Mittelalter die Veitstänze und in den Sechzigerjahren die Hysterien der Beatlesfans. Sogar bei den frühen Sartre-Auftritten war es bereits zu solchen hysterischen Ohnmachten gekommen. Daneben gilt das Lachen, aber auch das Gähnen als ansteckend.

Um während der Studentenbewegung die Ansteckungsgefahr zu bannen, das heißt die Revolte an der Ausbreitung zu hindern, setzten die konservativen Kräfte in den meisten Ländern auf die heilsame Wirkung von Polizeiknüppeln. In der Protestbewegung selbst wusste man jedoch, dass gerade die Polizeiknüppel auf Demonstrantenschädel eine bewusstseinserweiternde Wirkung hatten – sogar auf unbeteiligte Fernsehzuschauer. Erst 20 Jahre später und nach dem „Zusammenbruch des Sozialismus“ trauten sich die Politiker wieder, für alle Übel dieser Welt „68“ verantwortlich zu machen. Auch die Unipräsidenten beeilten sich landaus, landab, „die letzten Folgen von 68“ zu beseitigen, wie sie lauthals zu verkünden wagten. Die nächste Protestepidemie wird deswegen um so gewisser sein. Zumal es bis jetzt noch keinerlei Forschung darüber gibt, wie die Ansteckung wirklich erfolgt – geschweige denn, wie man sie im Keim ersticken kann. HELMUT HÖGE