: Der Reform-Ruck
Ralph Bollmann, Jahrgang 1969, studierte Neuere Geschichte, Politik und Öffentliches Recht in Tübingen, Bologna und an der Humboldt-Universität Berlin. Er ist Absolvent der Deutschen Journalistenschule in München und leitet seit 2008 das Parlamentsbüro der taz in Berlin. Zuletzt erschien von ihm: „Lob des Imperiums. Der Untergang Roms und die Zukunft des Westens“ (WJS-Verlag, 2006). Sein aktuelles Buch „Reform: Ein deutscher Mythos“ erscheint am 7. Oktober, ebenfalls im WJS-Verlag. Es hat 180 Seiten und kostet 19,90 Euro.
Nur in Deutschland glaubt man an die eine Großreform, die alle Probleme löst. Ralph Bollmann erklärt in seinem neuen Buch, warum
VON RALPH BOLLMANN
An jenem Dienstag im Herbst bekamen die Abgeordneten des Deutschen Bundestages im Bonner Plenarsaal eine veritable Ruck-Rede zu hören. „Dauerhafte Sicherheit kann es in einer entwickelten Gesellschaft nur durch Veränderung geben“, schärfte der frisch gewählte Bundeskanzler den Parlamentariern ein. „In der Bundesrepublik stehen wir vor der Notwendigkeit umfassender Reformen.“ Das gelte umso mehr, als die neue Regierung von ihrer Vorgängerin ein „schwieriges wirtschaftspolitisches Erbe“ übernommen habe, und es betreffe alle Bereiche der Gesellschaft – von der Bundesbahn, die künftig „einem Wirtschaftsunternehmen vergleichbar“ geführt werden solle, bis zur Bundesregierung selbst, die ihren Apparat straffen und die Zahl der Ministerien reduzieren wolle. „Diese Regierung redet niemandem nach dem Munde. Sie fordert viel, nicht nur von anderen, sondern auch von sich selbst.“
Einen Neubeginn kündigte der neue Bundeskanzler Brandt in seiner Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969 an. „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, versprach Brandt gleich zu Beginn, um unter dem Beifall von SPD und FDP nicht minder pathetisch zu enden: „Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie, wir fangen erst richtig an.“
Der Satz gerann zum Mythos einer unbeschwerten Zeit, doch bei vollständiger Lektüre lassen sich in Brandts Vortrag durchaus Anklänge an die Ruck-Rede entdecken, mit der Bundespräsident Roman Herzog 1997 das Land aufrütteln wollte.
Der erste sozialdemokratische Bundeskanzler verkündete die Reform nicht nur als Verheißung, er stellte sie vielmehr als bittere Notwendigkeit dar. Wir stehen nicht am Ende unserer Demokratie: Dieser Satz war auf politische Kreise gemünzt, die in den Studentenprotesten der vorausgegangenen Jahre so etwas wie den Untergang der Bonner Republik heraufdämmern sahen. Das waren nicht nur die Konservativen, sondern auch traditionelle SPD-Wähler, die das Treiben der akademischen Chaoten eher missvergnügt zur Kenntnis nahmen. Sie waren es, die der Kanzler mit dem Hinweis zu belehren suchte, Ordnung sei nur mit Hilfe demokratischer Reformen zu bewahren.
Den protestierenden Studenten gegenüber lässt sich das Brandt’sche Programm nicht nur als Verheißung, sondern ebenso als Drohung lesen. Ausdrücklich wandte sich der Kanzler an „jene jungen Menschen, die uns beim Wort nehmen wollen“ – und kündigte ihnen gleichzeitig an, dass auch sie nun beim Wort genommen würden. Mehr Demokratie wagen: Das bedeutete laut Brandt nicht nur mehr Freiheit, sondern mehr Verantwortung des Einzelnen für Staat und Gesellschaft. Die Ermahnung, „auch von sich selbst“ viel zu fordern, richtete sich nicht nur an die Regierung, sondern auch an jeden Bürger.
Das Zauberwort für die operative Umsetzung dieser Reformpolitik hieß Planung. Einen „langfristigen Bildungsplan für die nächsten 15 bis 20 Jahre“ kündigte Brandt in seiner Regierungserklärung an. In der Strukturpolitik wer- de seine Regierung „systematische Planung und Vorausschau“ betreiben, und auch moderne Verkehrspolitik bedürfe „einer umfassenden Planung“. Dementsprechend sah der 1971 verabschiedete Bundesfernstraßenplan die Verdoppelung des Autobahnnetzes bis zum Jahr 1985 vor, hatte doch der sozialdemokratische Verkehrsminister Georg Leber versprochen, kein Deutscher werde künftig mehr als 20 Kilometer bis zur nächsten Autobahnauffahrt zurücklegen müssen.
In der Regierungszentrale sollte ein neuer Planungsstab unter Leitung von Kanzleramtsminister Horst Ehmke das Design der angekündigten inneren Reformen entwerfen. Die Koalition setzte eine Kommission für wirtschaftlichen und sozialen Wandel ein, die Dutzende von Forschungsaufträgen vergab und die Ergebnisse in einer eigenen Schriftenreihe veröffentlichte. In einem der Bände erläuterte der Soziologe Fritz W. Scharpf nicht ohne Eigeninteresse, am Beginn eines jeden Reformprozesses habe „Informationsverarbeitung“ zu stehen, insbesondere das „Zusammenspiel mit der Wissenschaft“.
Reformpolitik als Ergebnis wissenschaftlicher Expertise, als Exekution des objektiv Richtigen und Vernünftigen: Dieser Anspruch erinnerte an die Reformen des aufgeklärten Absolutismus, die bereits an diesem hypertrophen Anspruch gescheitert waren. Schon im 18. Jahrhundert waren die Betroffenen für das Vernünftige nicht immer zu begeistern, zumal das unvernünftige Alte bislang doch funktioniert hatte. Das moderne Mehrheitsprinzip machte die Lösung dieses Problems nicht leichter. Was, wenn die Bürger etwas ganz anderes wollten als die Experten in den Planungsstäben – oder wenn all die schönen Pläne gar nicht funktionierten?
Der Glaube an die Planbarkeit übergriff zeitweise alle Partei- oder Systemgrenzen. Die DDR betrieb damals nicht nur ökonomisch Planwirtschaft, selbst für die „staatliche Führung“ entwarfen ostdeutsche Rechtswissenschaftler damals kybernetische Modelle.
Dabei hatte der sozialistische Lieblingsdramatiker Bertolt Brecht schon in der „Dreigroschenoper“ gespottet: „Ja, mach nur einen Plan, sei nur ein großes Licht! Und mach dann noch ’nen zweiten Plan, geh’n tun sie beide nicht.“ Diese Erkenntnis konnten ostdeutsche Fernsehzuschauer auch den populären Fernsehfilmen der Olsenbande entnehmen. „Ich habe einen Plan“, verkündete Bandenchef Egon Olsen regelmäßig. Die sozialistische Nation vor dem Fernsehschirm wusste, dass er wieder einmal schiefgehen würde.
Spätestens bei Brandts Rücktritt 1974 waren sich die Beobachter einig, dass die Politik der inneren Reformen weit- gehend gescheitert sei, im Gegensatz zum erfolgreichen Kurswechsel in der Ostpolitik. Die Affäre um den Kanzleramtsspion Günther Guillaume mochte den Abgang der einst so populären SPD-Ikone veranlasst haben, die tieferen Gründe für Brandts Scheitern lagen nach allgemeiner Einschätzung in seiner innenpolitischen Erfolglosigkeit.
Der neue Bundeskanzler Helmut Schmidt personifizierte den anscheinend nötigen Kurswechsel. Von großen Reformen, langfristiger Planung und demokratischem Aufbruch hielt er nicht viel, umso mehr von pragmatischem Krisenmanagement. Visionen galten ihm, so wurde kolportiert, als Fall für den Arzt. Das lag auf der Linie eines ernüchterten Zeitgeistes, den die einen als Tendenzwende oder gar Gegenreform beklagten, die anderen als Rückkehr zum Realismus begrüßten. Der Vorgang weist Parallelen auf zur neuen Nüchternheit der Kanzlerin Merkel nach dem Ende der rot-grünen Reformära.
In der Reformdiskussion der Gegenwart spielt die historische Erfahrung dieser jüngsten großen Reformepoche erstaunlicherweise kaum eine Rolle. Die Vergleichbarkeit der beiden Reformprozesse wird meist mit dem Argument bestritten, damals sei es noch um das Verteilen sozialer Wohltaten gegangen. Dabei fällte Brandt nur eine einzige der großen Entscheidungen, die später zur Strukturkrise der öffentlichen Haushalte beitrugen: Er ließ sich im Februar 1974 vom damaligen ÖTV-Vorsitzenden Heinz Kluncker den historisch höchsten Tarifabschluss im öffentlichen Dienst abhandeln, der eine Erhöhung der Bezüge um volle elf Prozent vorsah.
Für alle übrigen Wohltaten waren konservative Regierungen verantwortlich, von der dynamischen Rente des Kanzlers Konrad Adenauer in den fünfziger Jahren bis zum Vorruhestand des Arbeitsministers Norbert Blüm in den Achtzigern.
Die meisten der Reformen seien nicht am fehlenden Geld gescheitert, schreibt der Kanzleramtsminister Ehmke rückblickend, sondern daran, „dass es für sie keine Mehrheiten gab“. Das bezog sich auf die Rolle des Koalitionspartners FDP ebenso wie auf die damalige Unionsmehrheit im Bundesrat – und nicht zuletzt auf reformpolitische Differenzen innerhalb der SPD selbst, wo sich in jenen Jahren die Gruppe der konservativen Kanalarbeiter gegen den reformfreudigen Kurs des Bundeskanzlers organisierte.
Vor allem die sozialdemokratische Bildungspolitik brachte das Wort Reform in Misskredit. Das Ziel der quantitativen Bildungsexpansion war in den Sechzigerjahren mit der Neugründung zahlreicher Universitäten noch von der CDU mitgetragen worden. Nun kamen Zweifel auf.
Erste Meldungen über arbeitslose Akademiker und die Studentenproteste der zurückliegenden Jahre verbanden sich aus konservativer Sicht zur Horrorvision eines akademischen Proletariats. Hier rief keineswegs ein Sparprogramm Widerstand hervor, sondern ganz im Gegenteil großzügige staatliche Ausgabenpolitik. Hinzu kam der Streit um die Gesamtschule, die bereits in den Sechzigerjahren in einzelnen Bundesländern erprobt worden war und von 1972 als bundesweiter, auf zehn Jahre angelegter Modellversuch starten sollte.
Im gleichen Jahr löste die hessische SPD-Landesregierung mit ihrer Rahmenrichtlinie für den Unterricht im neuen Fach Gesellschaftskunde einen Sturm der Entrüstung aus. Die Reformer wollten nicht nur die äußere Form, sondern endlich auch den Inhalt des Unterrichts demokratisieren. Den Gegnern jedoch galt das als Beleg, dass die sozialdemokratische Bildungsreform allein linksgerichteter Indoktrination dienen sollte. Der wütende Protest sei ein Lehrstück dafür, „wie man Reformen sabotiert durch die Verteufelung des Gegners“, schreibt der Politologe und Publizist Christian Graf von Krockow. Gleichzeitig waren die schlecht vorbereiteten und wenig durchdachten Richtlinien für ihn aber auch „ein Lehrstück zum Thema:Wie man Reformen durch eigenes Verschulden ruiniert“.
Dass die Reformen zu einem wesentlich Teil scheiterten, lässt sich nicht allein aus den persönlichen Unzulänglichkeiten der Akteure erklären. Der Streit um Gesamtschule oder Rahmenrichtlinie zeigt, dass entschlossenere Veränderungen den Widerstand der Gegenreformer nur erhöht hätten. Damit wären sogar Erfolge wie die Steigerung der Absolventenzahlen von Gymnasien und Hochschulen in Gefahr geraten. Eine radikalere Ruck-Rhetorik hätte in der Realität bescheidenere Ergebnisse hervorgebracht.
Die wirtschaftlichen Folgen des ersten Ölpreisschocks im Herbst 1973 verfestigten dann nur noch einen Eindruck, der ohnehin entstanden war: Der hypertrophe Planungsanspruch ließ sich nicht realisieren, das Konzept von Reform schien in Frage gestellt. Am Ende angelangt schien damit jeder willentliche, an langfristigen Zielen orientierte Gestaltungsanspruch von Politik – zumindest, soweit er über jenes pragmatische Krisenmanagement hinausging, das Schmidt von 1974 an praktizierte.
In dieser Diagnose stimmten damals alle überein, ob ihnen die Reformpolitik nun zu weit ging wie den Konservativen oder nicht weit genug wie den protestierenden Studenten und dem linken Flügel der Regierungspartei SPD. Für die Konservativen sei die Reformpolitik „ein Angriff auf deutsche Tradition und Ordnung“ gewesen, schreibt Ehmke. „Für ihre linken Verächter war sie ‚Sozialdemokratismus‘, der das bürgerliche ‚System‘ nicht überwinde, sondern stabilisiere.“ Brandts einstiger Kanzleramtsminister bekannte rückblickend, „dass wir die Reformen mit zu viel Euphorie angegangen sind und dadurch den Erwartungsdruck erhöht haben“. Andererseits hätten die Reformer nach Ehmkes Ansicht „ohne diesen überschießenden Optimismus nicht geschafft, was wir erreicht haben“.
Die Reformpolitik war weitgehend misslungen, darüber herrschte unter den Zeitgenossen Konsens. Umstritten war, was daraus folgte. SPD-Vordenker wie Peter von Oertzen und Erhard Eppler hielten am politischen Planungsanspruch fest und diagnostizierten lediglich ein Vermittlungsproblem. „Sozialdemokratische Politik für die Menschen unseres Landes kann nur mit diesen Menschen gemacht werden. Sie darf ihnen weder besserwisserisch noch herablassend gegenübertreten“, formulierten sie 1976 in einem so genannten Orientierungsrahmen 85, der ganz ähnlich wie Schröders Agenda 2010 das Programm für die nächsten beiden Wahlperioden abstecken sollte. Kurz nachdem Eppler wegen Etatkürzungen von seinem Amt als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit zurückgetreten war, formulierte er in einem 1975 veröffentlichten Buch die Frage: „Gibt es eine Möglichkeit, das mittel- und langfristig Nötige dem Bürger so nahezubringen, dass es auch das kurzfristig Verständliche und Akzeptable werden kann?“
Umweltpolitik war die einzige Art von Reform, die nach der ernüchternden Erfahrung der Brandtschen Reformpolitik logisch noch möglich war. Der Sozialdemokrat Peter Glotz bilanzierte, „dass Reformen nicht etwa Zufriedenheit erzeugen, sondern oft genug Unzufriedenheit“. Das würde ein Politiker nur noch riskieren, wenn er mit seiner Reformpolitik den Weltuntergang abwenden könnte.
Tatsächlich wurde das baldige Ende der Menschheit in den Debatten der Achtzigerjahre als gegeben angenommen. Unklar blieb nur noch, auf welche Weise es herbeigeführt würde – durch einen Atomkrieg, durch das Waldsterben oder durch einen Unfall in einem Atomkraftwerk.
Für Veränderungen konnte im Bewusstsein der zu erwartenden Widerstände nur noch derjenige eintreten, der die Welt wie der SPD-Politiker Eppler vor der Alternative „Ende oder Wende“ wähnte – ein Grundtenor auch der jüngsten Reformdebatte, in der jederzeit der Untergang des Standorts Deutschland auf dem Spiel zu stehen schien. Je geringer die Reformbereitschaft, desto martialischer die Ruck-Rhetorik.
In konservativen Ohren wirkte das Festhalten am Planungs- und Reformanspruch wie eine Drohung, an die das konkrete Regierungshandeln des sozialdemokratischen Kanzlers Schmidt freilich nicht zurückgebunden war. Der konservative Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis fürchtete, die SPD habe eine Reformpolitik begonnen, „um mit ihr nie mehr aufzuhören“. Wenn politische Parteien „ihre Ideologien zu dauernden Aufgaben“ stilisierten, könnten sie damit „eine Gesellschaft in Fesseln schlagen“. Später sollte Hennis diese Bedrohung mit der bemerkenswerten Neuinterpretation untermauern, die er einer Radierung des Spaniers Francisco de Goya angedeihen ließ. „El sueño de la razón produce monstruos“, lautet deren berühmtes Motto, was in der geläufigen deutschen Übersetzung heißt: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Für Hennis jedoch war es der „Traum der Vernunft“, der die Monster hervorbrachte, die moderne Projektemacherei.
Parteipolitisch reagierten die Konservativen nach einer ersten Phase der reinen Verweigerung und Ablehnung ganz so wie die katholische Kirche nach Luthers Reformation. Sie kopierte die Methoden des Gegners und modernisierte sich unter den Generalsekretären Kurt Biedenkopf und Heiner Geißler selbst. Die Christdemokraten freundeten sich mit der Theorie und Praxis von Reformen an, als sich die Sozialdemokraten gerade davon verabschiedeten. Konservative plädierten nun für eine „behutsame Dialektik von Veränderung und Bewahrung“, wie es Günther Nonnenmacher formulierte, damals Politologe an der Gesamthochschule Wuppertal und heute Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Noch 1957 habe die CDU einen überwältigenden Wahlsieg eingefahren mit dem Versprechen, keine Experimente wagen zu wollen, so Nonnenmacher. In einer Zeit beschleunigten Wandels stelle ein solcher Politikansatz jedoch „keine realistische Perspektive“ mehr dar, wolle man nicht eine „strukturelle Verkrustung“ wie im Staatskommunismus osteuropäischer Prägung riskieren. Allerdings könne eine Regierung „nicht in allen Bereichen gleichzeitig und ohne Unterlass Veränderungen initiieren, ohne die Quittung am nächsten Wahltermin zu kassieren“.
Eine Mittelposition nahmen skeptische Reformer ein. So kritisierte der neue Bildungsstaatssekretär Glotz zwar „die katastrophale Überschätzung der Möglichkeiten von Politik“ in den zurückliegenden Jahren. Vom reformerischen Anspruch als solchem wollte er aber nicht ablassen und deshalb den von rechts bis links „als Schimpfwort benutzten Begriff ‚Reformismus‘ positiv umwerten“. In ähnlicher Weise propagierte Krockow Reform als politisches Prinzip und einzige Alternative zu „Radikalismus und Resignation“. Von einem Ruck war da keine Rede mehr.
Noch düsterer nahmen sich die Diagnosen von Wissenschaftlern aus. Nach den Erfahrungen der Brandt-Ära beurteilten sie die Steuerungsfähigkeit von Politik skeptischer denn je. Als einer der ersten setzte sich der Sozialwissenschaftler Claus Offe in einer damals viel beachteten Fallstudie über die sozialdemokratische Berufsbildungsreform mit dem Verlaufsmuster von Reformen auseinander. Deren Scheitern sei nicht durch mehr oder weniger zufällige Fehler oder Missgeschicke zu erklären, sondern durch eine „Strukturkrise des Systems staatlicher Organisationsmittel“, so Offe. „Ihre von der realen Entwicklung blamierten Leistungsziele können nur von neuen, umso schneller sich abnutzenden Programmatiken überdeckt werden.“ Das rufe „zynisch-apathische politische Einstellungen“ hervor. Diese Analyse aus dem Jahr 1975 scheint nahezu perfekt auf die Reformdebatten der Gegenwart zu passen. Nicht realisiert hat sich Offes Prognose, das Scheitern staatlicher Reformpolitik werde die Disposition zur Selbsthilfe verstärken.
Die Hauptverantwortung für das Scheitern von Reformen im politischen System der Bundesrepublik schreiben Politologen heute sogenannten Vetospielern zu. Dazu zählen sie etwa den Bundesrat, die Koalitionsparteien, Lobbyverbände oder die Tarifparteien. Ein Blick auf andere Länder oder historische Beispiele zeigt allerdings, dass dortige Reformkonjunkturen vergleichbare Wellenbewegungen aufweisen. Eliminiert man die Vetospieler aus der Politik, werden sie in der Gesellschaft umso mächtiger auftreten. Selbst ein absolutistischer Herrscher wie Joseph II. hatte mit ihnen zu rechnen.
Gegen die verbreitete Klage über Unregierbarkeit und Staatsversagen wandte sich 1981 der Politologe Ruß-Mohl. Er machte stattdessen als Grundmuster aller Politik eine Wellenbewegung aus, die sich „aus einem Reformversuch und dessen anschließender (partieller) Rücknahme“ ergebe. Am Ende blieben „ungefähr jene 5 Prozent Kurskorrektur, die 1976 der damalige Finanzminister Apel als Marge möglicher Veränderung nannte“. Das Vorbild für den Reformer sei Sisyphos, den man sich nach Camus „als glückliche Menschen“ vorzustellen habe.
Als Motto stellte Ruß-Mohl seinem Buch ein Zitat des Schweizer Universalgelehrten Jacob Burckhardt voran: „Um relativ nur Weniges zu erreichen, wobei man fragt, wieweit es sich um Gewünschtes oder gar um Wünschenswertes gehandelt haben wird, braucht die Geschichte ganz enorme Veranstaltungen und einen ganz unverhältnismäßigen Lärm.“
Krockow wies 1975 darauf hin, dass Politik als Kampf um Veränderung oder Bewahrung immer ein Streit um Reform oder Nicht-Reform sei. Dabei werde stillschweigend vorausgesetzt, „dass die Verhältnisse überhaupt ‚machbar‘ sind: dass also ihre Veränderbarkeit im Bereich menschlicher Möglichkeiten liegt“. Aus diesem Grund biete das Wetter „einen so beliebten, konkurrenzlos unverfänglichen, verbindend unverbindlichen Gesprächsgegenstand“ – weil es eben nicht reformierbar und damit nicht politisierbar sei: „Deshalb gibt es noch keine Wetterpolitik und kein Wetterrecht, keine Wetterbürokratie und keinen Wetterminister, keinen Konflikt oder gar Krieg um das Wetter.“
Das hat sich durch die Klimadebatte inzwischen geändert. Der Mensch kann in diesen Kreislauf der Natur eingreifen, er kann durch seinen Ausstoß von Treibhausgasen das Klima verändern oder zumindest natürliche Klimaveränderungen verstärken: Diese Erkenntnis hat die letzten Residuen des Unpolitischen und der Reformresistenz beseitigt. Heute ist alles reformierbar geworden. Insofern hat es eine innere Konsequenz, wenn die verhinderte innenpolitische Reformpolitikerin Merkel ihre Energien nunmehr auf den globalen Klima-Ruck lenkt.
RALPH BOLLMANN, Jahrgang 1969, verbindet mit den reformwütigen Siebzigern keine persönliche politische Erinnerung – außer einem deutschen Autoatlas seiner Eltern: Darin sind geplante Autobahnen im Abstand von weniger als zwanzig Kilometern verzeichnet.