Kein Staat zu backen

Zwei Überraschungen zum Saisonstart der Volksbühne: René Pollesch überfordert sein Publikum nicht mehr mit Text-Tsunamis. Frank Castorf inszeniert wie immer, hat aber keine Feinde mehr

VON CHRISTIANE KÜHL

Dass das Projekt Gemeinschaft aktuell nicht auf dem Höhepunkt seiner Möglichkeiten ist, ist Konsens, auch im Berliner Theater. Schuld sind der Kapitalismus sowie der Einzelne, der zum Geld eine libidinöse und zur Welt eine diffuse Beziehung pflegt, mithin zur revolutionären Bewegung gänzlich ungeeignet ist. So weit, so bekannt. Die Frage ist: Geht da noch was? Die Volksbühne sagt: Nein.

Zur Spielzeiteröffnung wurde das Publikum in einem Zirkuszelt am Rosa-Luxemburg-Platz empfangen, umringt von hölzernen Wagen, bunten Glühbirnen und wohlig knisternder Depression-Era-Musik. Später erklingt Madonna, aber das ändert nichts an den herrschenden Verhältnissen: Was „Mr. Sophistication und seine schönen Gespielinnen“ von Sklaven unterscheidet, ist allein die Tatsache, dass man sie feuern kann. „Crazy Horse“ heißt ihr schäbiger Nachtklub, entworfen hat ihn Bert Neumann, erfunden René Pollesch. Ursprünglich für Mülheim, wo „Tal der fliegenden Messer“ im Juni als Teil 1 von Polleschs Ruhrtrilogie uraufgeführt wurde. Der Import des Stücks nach Berlin klappt so reibungslos, dass man gar nicht weiß, ob das für oder gegen den Autor und die Hauptstadt spricht. Oder schlicht für die Einschrumpfung der Kampfzone.

Das Set-up jedenfalls ist großartig. Die Schauspieler agieren im Zelt, in den Trailern oder auf der bevölkerten Straße. Das Publikum bekommt das auf der Bühne, auf der Leinwand oder durch Zeltschlitze zu sehen, in den glücklichsten Momenten vermischt mit Live-Bluescreen. Eine Menge Bewegung für Pollesch-Schauspieler, die einst wie Pfahlmuscheln auf Barhockern klebten, um Theorie pfeilgerade herauszuschreien – und eine Menge Leerlauf auch. Tatsächlich wird die Pollesch-typische gezielte Überforderung des kognitiven Apparats hier abgelöst von visueller Reizüberflutung – und somit ziemlich banal. Die Grundforderungen des Stücks nach einem „Sozialismus jenseits der sentimentalen Sorte“ und Gemeinschaft „jenseits des Melodrams, das wir uns immer erzählen“, wirken da wie überblendete Untertitel.

Frank Castorf ging in seiner Untersuchung von Utopien und Ungerechtigkeiten ein paar Jahrtausende weiter zurück und präsentierte zum Saisonstart eine Aufmischung von Sophokles’ Satyrspiel „Die Spürhunde“. Unter dem aktualisierten Titel „Hunde – Reichtum ist die Kotze des Glücks“ knallen sich auf der Bühne im dritten Stock neun Schauspieler Verse, Kohl und Schlamm um die Ohren. Die Kyniker predigen Verzicht auf jegliches Eigentum, aber allein mit Moral und Gutmütigkeit ist auch bei den Griechen kein Staat zu backen.

Castorf selbst backt wie immer mit Schauspielerinnen in Netzstrümpfen, Pelz und Stöckelschuhen und dazu einer lächerlichen Männerriege. Im Ergebnis ist das jedoch völlig neu: Nach einem höchst komischen Einstieg (Jorres Risse als McFit-Appollon) wähnt man sich abwechselnd in einer Antiken-, Peter-Stein- oder Laientheaterpersiflage, die außer Lautsein nichts zu wollen scheint. Ein des Auftriebs würdiger Feind ist nirgendwo auszumachen. Ein Biss, der wehtut, leider auch nicht.

Nächste Aufführungen: „Tal der fliegenden Messer“ – 17., 21., 27. 9.; „Hunde“ – 27. 9., 12. 10., 20. 10.