Du sollst dir ein Bild machen

Während Gerichtsverhandlungen ist der Presse das Fotografieren verboten. Gut für Marina Prüfer, deren Beruf eigentlich unter Denkmalschutz gestellt werden sollte: Sie ist Gerichtszeichnerin

von JUTTA HEESS

Das hellblaue Papier sieht aus wie eine Schwimmbad-Zehnerkarte. Der Text darauf ist allerdings unmissverständlich: „Bitte beachten! Das Fotografieren und Filmen sowie die Vornahme von Video- und Tonaufzeichnungen während einer laufenden Hauptverhandlung – auch von außen in den Sitzungssaal hinein – ist gesetzlich untersagt.“ Marina Prüfer zeigt ein weiteres zehn Jahre altes Stück Pappe: Es ist ihre Akkreditierung zum Politbüro-Prozess 1992, während dem sie unter anderen Erich Honecker, Erich Mielke und Egon Krenz zeichnete.

Zehn Jahre später ist alles beim Alten – zumindest was die Regeln bei Gericht betrifft: Nach wie vor ist das Filmen und Fotografieren bei Verhandlungen verboten. Und das, obwohl im Rechtsstaat Zuschauer zu den meisten Gerichtssitzungen zugelassen sind. Nur die Medien haben das Nachsehen. Der Nachrichtensender n-tv wollte das nicht länger hinnehmen und legte im vergangenen Jahr eine Verfassungsbeschwerde gegen das absolute Verbot von Fernsehaufnahmen in deutschen Gerichtssälen ein. Ohne Erfolg. TV-Berichte aus dem Gericht könnten eine „Pranger-Wirkung“ haben, hieß es im Urteil. Und: „Prozesse finden in der, aber nicht für die Öffentlichkeit statt.“

Kameras müssen also draußen bleiben – ein Bleistift jedoch darf rein in den Saal. Und mit ihm derjenige, der als Einziger berechtigt ist, während einer Verhandlung Bilder zu machen: der Gerichtszeichner. Oder die Gerichtszeichnerin. Marina Prüfer zeigt ein Bild von Erich Honecker: Mit wenigen Strichen hat sie das Gesicht des SED-Chefs eingefangen, die zusammengepressten Lippen, die großen Ohren und natürlich die dicke Brille. Aber nicht nur die Angeklagten des damaligen Prozesses hat sie porträtiert, auch Richter, Gerichtsdiener oder Medienkollegen wurden von ihr auf Papier gebannt.

Die 47-Jährige hat einen ungewöhnlichen Beruf. Und trotz des Privilegs, bei Verhandlungen Bilder anzufertigen, nur wenige Kollegen. Kein Wunder, kann sie doch von ihrer Tätigkeit als Gerichtszeichnerin nicht leben. Zu selten veröffentlichen Zeitungen und Fernsehsender die gezeichneten Dokumentationen von Gerichtsprozessen. Fotos und Kamerabilder, die vor oder nach der eigentlichen Verhandlung entstehen, passen eben besser ins Bild der heutigen Berichterstattung, meint Prüfer. Und so werde die Gerichtszeichnerei eben immer weniger gebraucht. Marina Prüfer arbeitet heute überwiegend als Medienpädagogin und Malerin.

Zum letzten Mal saß sie anlässlich des Berliner Bankenskandals und der Spendenaffäre bei Gericht und hat die Gesichter der Angeklagten nicht aus den Augen gelassen. Zuvor war sie beim Mauerschützenprozess, beim DDR-Dopingprozess und beim besagten Politbüro-Prozess im Saal 700 des Kriminalgerichts Moabit. Dort hat die gelernte Bauzeichnerin auch ihre eigene Vergangenheit aufgearbeitet: 1976 floh Marina Prüfer im Kofferraum eines Opel Ascona aus der DDR. Und gut 15 Jahre später beobachtete sie die einstigen Machthaber, studierte ihre Gesichtszüge und brachte sie mit flotten Strichen zu Papier. „Die Herren waren nie nur ein Objekt für mich, es steckte ja auch etwas von meiner eigenen Geschichte in ihnen“, sagt sie. Beim Zeichnen selbst denke sie allerdings nicht an solche Zusammenhänge, „ich zeichne, was ich sehe, ohne Wertung“.

Etwa 15 Minuten benötigt Marina Prüfer für ein Porträt. Sie ist Autodidaktin – genau wie die Handvoll weiterer Zeichner, die in deutschen Gerichten Angeklagten ein Gesicht in Bleistift, Tusche oder Aquarellfarben geben. Eine Ausbildung zum Gerichtszeichner gibt es nicht, auch keinen bundesweiten Zusammenschluss. Und wenn in Zukunft das Interesse der Medien an den zeichnenden Chronisten noch mehr nachlässt, kann man den Beruf des Gerichtszeichners ohne weiteres als aussterbende Zunft bezeichnen. Ob sie vielleicht nicht auf Karikaturen umsteigen wolle, die immerhin von allen Zeitungen gerne gedruckt werden? „Das habe ich mal versucht, aber es liegt mir nicht so.“ Marina Prüfer deutet auf eine Zeichnung von Erich Mielke, er sitzt geduckt auf der Anklagebank und sieht aus wie ein ängstlicher Hase. „Aber eigentlich, na ja, sehen Sie doch mal, ist der Mensch nicht schon komisch genug?“

Marina Prüfers Zeichnungen vom Prozess gegen Honecker & Co sind bis zum 1. Februar im Polizeipräsidium am Platz der Luftbrücke 6 in Berlin-Tempelhof ausgestellt.