DER GRÖSSTE RISIKOFAKTOR IM GESUNDHEITSSYSTEM IST DIE ARMUT : Schnüffeln für die Krankenkassen
Zunächst wirkt die Idee brillant: Wer nicht mehr sündigt, wird belohnt. Das war schon immer die christliche Idee von Gott und wurde nun von einigen Krankenkassen adaptiert. So sollen etwa Kettenraucher einen Beitragsrabatt erhalten, wenn sie nicht mehr qualmen. Billiger könnte es auch für Übergewichtige werden, die abspecken. Oder für Alkoholfans, die sich mäßigen.
Aber die Begeisterung währt nur kurz – bei allen, die sowieso nicht rauchen und Fett vermeiden. Werden wir nicht bestraft? Immer haben wir uns um unseren Körper gesorgt und nie wurden wir von der Kasse belohnt. Stattdessen, noch fieser, sollen wir jetzt für die Rauch-, Sauf- und Fressorgien der Genusssüchtigen zahlen! Wenn schon, dann drängt sich das Umgekehrte auf: Die Übergewichtigen, Trinker und Raucher sollen gefälligst Strafzölle an die Kassen überweisen.
Diese Rachefantasie hat keine Chance, so wenig wie die Ursprungsidee der Krankenkassen. Denn ob Exsünder belohnt oder Wiederholungstäter bestraft werden: Zunächst gilt es, sie zu identifizieren und die Lügner zu überführen. Es würde sich also bald die strenge Frage stellen: Wer raucht oder trinkt, obwohl er das Gegenteil beteuert?
Beantworten könnten dies nur die Ärzte. Doch die weigern sich, das hat nach der Ärztekammer nun auch der Hartmannbund klargestellt. Man kann die Doktoren nur zu gut verstehen: Als Kontrolletti für den versteckten Glimmstengel sind bereits viele tausend Schulhausmeister gescheitert, die unerlaubte Raucherecken ausspähen wollten.
Zudem wäre es nicht nur schwierig, die Lügner dingfest zu machen – auch die Liste der potenziellen Risikofaktoren ist unendlich. Beispiel Gemüse: Davon sollte jeder täglich 400 Gramm essen, plus 250 Gramm Obst, um sich gegen diverse Krebsarten zu schützen. Nur die wenigsten Deutschen dürften diese Quote erreichen. Und natürlich müssten alle Risikosportarten eliminiert werden. Aber was ist das? Auch die heimische Frühgymnastik schadet, sobald sie falsch angegangen wird. Wenn man alle Risiken einer Sonderbehandlung unterziehen wollte, wäre von der solidarischen Krankenkasse nichts mehr übrig. Es ist daher richtig, so bescheiden zu bleiben wie Gesundheitsministerin Ulla Schmidt: Sie will jene belohnen, die an Vorsorgeuntersuchungen teilnehmen.
Doch so munter über Risikofaktoren diskutiert wird – der größte wird beschwiegen: Armut. Arme sterben etwa zehn Jahre früher. Wie gesund man sich ernährt, ob man Sport treibt, wie viel man raucht und trinkt, das hat eben sehr viel mit Bildung und Chancen zu tun. ULRIKE HERRMANN