: Erst Maikäfer, dann Tausendsassa
Zu seiner Zeit sah man in ihm nur einen Luftikus und Betrüger, doch er ist ein Pionier der Weltraumfahrt und gilt als Erfinder des Hubschraubers: Ein Porträt des 1934 verstorbenen Konstrukteurs, Pianisten und Sozialreformers Hermann Ganswindt
von FALKO HENNIG
Als Hermann Ganswindt 1870 anregte, Raketen nach dem Rückstoßprinzip ins All zu senden, wurde er von vielen Seiten noch belächelt. Einige Jahrzehnte später jedoch, nach seinem Tod 1934, nennt man ihn respektvoll einen „Pionier der Weltraumfahrt“. In die Annalen der Technikgeschichte allerdings ist Ganswindt nicht als Prophet der Weltraumfahrt eingegangen, sondern als Erfinder des Hubschraubers. Max Valier, ebenfalls Raketenpionier und durch seinen Explosionstod sogar einer der Märtyrer der neuen Technik, erkannte Ganswindts Innovationsleistung mit folgenden Worten an: „Zunächst sollte die Maschine durch Hubschraubenflugzeuge möglichst bis an die Grenze des Luftkreises empor getragen werden“, und erst in diesen höheren Schichten würde die Rakete dann in Betrieb gesetzt werden und selbst Alpha Centauri erreichen können.
Der Ostpreuße Hermann Ganswindt wurde am 12. Juni 1856 zu Voigtshof bei Seeburg geboren und entstammte einer angesehenen Familie. Sein Vater besaß ein großes Mühlenetablissement, in dem er gleichzeitig eine Werkstatt für technische Versuche unterhielt. Ganswindts Werdegang scheint dann nur folgerichtig: Als Gymnasiast entwirft er eine von ihm „Weltenfahrzeug“ genannte Rakete. Später studiert er Physik und hält bereits 1881 einen Vortrag über sein Raumfahrzeug. Ab 1884 plant er seinen Hubschrauber, der die Rakete in die oberen Luftschichten schleppen soll, und dazu baut er von 1888 bis 1890 ein eisernes Modell.
In denselben Jahren macht er in Berlin von sich reden, als er in der Philharmonie eine Reihe von Vorträgen über seine Erfindungen hält und ein kleines Modell seiner Flugmaschine vorführt, das dann auf Jahrmärkten als Kinderspielzeug unter der Bezeichnung „fliegender Maikäfer“ bekannt wird. Trotz eines positiven Gutachtens von General von Schlieffen jedoch kann sich Ganswindt mit seinen Projekten nicht durchsetzen und gerät in wirtschaftliche Schwierigkeiten. 1891 lernt er im Alter von 35 Jahren Klavier und reist mit seinem „Klavierconcert und Experimental-Vortrag über Luftschifffahrt“ übers Land. Mit Chopin-Etüden und der Vorführung seines Hubschraubermodells im Wechsel glaubt Ganswindt, alle Zweifel an seiner Seriosität zu zerstreuen. Von den Einkünften pachtet er in Schöneberg ein Grundstück mit einem See als Badeanstalt und einer Radfahrbahn herum. Mit einem der Konkurrenz überlegenen Fahrrad mit Freigang und Drahtachsenlager scheint sich dann endlich auch der geschäftliche Erfolg einzustellen. Zu seinem Buch „Die Lösung des sozialen Problems“ äußert sich auch der Romancier Leo Tolstoi: „Dieses Buch hat ein Selbstdenker geschrieben.“
Sowohl das lenkbare Luftschiff beschrieb Ganswindt als Erster in seiner physikalischen Funktionsweise bis hin zu den Ankermasten, die in den Zwanziger- und Dreißigerjahren die Zeppeline dieser Welt antrieben. Für seine Rakete mit Rückstoßantrieb legte er bereits das später verwirklichte Zwei-Stufen-Prinzip fest. Er schlug vor, die Schwerelosigkeit durch Fliehkraft zu simulieren, wie es in dem Sciencefiction-Film „Odyssee 2001“ bebildert ist. Auch dass die Zeit als die vierte Dimension aufzufassen sei, war ihm klar. Er erfand das gekrümmte Flügelprofil des Hubschraubers und brachte selbst eine kleine Hilfsluftschraube an, die das Reaktionsmoment der Tragschraube ausgleichen sollte.
Mit seinem Kollegen Otto Lilienthal verband ihn eine herzliche Feindschaft. Lilienthals Versuche, Flugmaschinen mit schlagenden Flügeln anzutreiben, verrieten Ganswindt „seinen geringen Sinn für angewandte Mechanik“ und schienen ihm, als würde man eine auf Beinen laufende Lokomotive konstruieren. Doch auch für Lilienthal war der Kollege nur ein „Erfinder von Flugapparaten und anderen Vehikeln“.
Im Juli 1901 steigt Ganswindts Hubschrauber in Schöneberg erstmals auf – er ist das erste Motorflugzeug in der Geschichte der Menschheit überhaupt. Ein inzwischen leider verschollener Film darüber von den Gebrüdern Skladanowsky wurde am 5. November 1901 im Wintergarten gezeigt. Der Hubschrauber war zwar an einem Draht gesichert, erhob sich aber aus eigener Kraft einige Sekunden mit zwei Personen im Korb. Die Auslaufbewegungen der Luftschraube ließen den Apparat wieder sanft zur Erde sinken.
Doch dann naht das Verhängnis. Am 17. April 1902 wird Ganswindt durch Beschluss des Untersuchungsrichters beim Königlichen Landgericht II wegen Verdachts fortgesetzten Betrugs verhaftet und am nächsten Tag in das Untersuchungsgefängnis Moabit überführt. Das Ausstellungsgelände am Mariendorfer Weg wird polizeilich geschlossen, das gesamte Inventar versiegelt und die Geschäftsbücher der Firma beschlagnahmt, auf einen Wagen geladen und der Polizei zugeführt. 6.000 Mark bares Geld finden sich in der Kasse und werden ebenfalls einbehalten, die Arbeiter entlohnt, der eine kaufmännische Angestellte entlassen. Das Vermögen der Firma Hermann Ganswindts wird zur Konkursmasse. Nur die Wohnräume bleiben Frau Ganswindt und ihren sieben noch nicht erwachsenen Kindern erhalten.
Am Vormittag des 19. April schafft man Ganswindts beschlagnahmte Geschäftsbücher von Schöneberg nach Moabit. In der Vernehmung durch den Leiter der Untersuchung, Landrichter Reuter, bestreitet Ganswindt, sich irgendwelcher strafbaren Handlungen schuldig gemacht zu haben. Ihm wird vorgeworfen, dass er seine Erfindungen materiell zu verwerten suchte, obwohl sie noch unfertig wären. Tatsächlich hatte er Anteile für zehn und zwanzig Mark mit „sicheren Gewinnaussichten“ verkauft und dabei Reingewinne von mehreren tausend Mark in Aussicht gestellt. Er verkaufte Zinsbogen mit Zinscoupons als Anteilscheine an dem zu erwartenden Gewinn und leistete sofortige fünfprozentige Verzugszinsen. Außerdem hatte er zugesagt, für je hundert Mark und je tausend Mark die dreifachen Beträge „bei dem zu erwartenden Reingewinn“ zurückzuzahlen. Die Zinsbogen zu den Anteilschuldscheinen waren bereits bis zum März 1905 ausgefertigt, und der Talon berechtigte zur eventuellen Einlösung eines neuen Zinsbogens vom 1. April 1905 an.
Bereits seit fünf Monaten sammelte Kriminalkommissar Rucks Belastungsmaterial. Was insofern delikat ist, als dass Rucks 1906 wegen erwiesener Bestechlichkeit ins Gefängnis wanderte. Ob der Pressemagnat Mosse, die Konkurrenz aus der Fahrradindustrie oder ganz andere Feinde hinter der Zerstörung von Ganswindts Existenz stehen, konnte bis heute nicht geklärt werden.
Als der Erfinder im Gefängnis steckt, wird von der Presse verbreitet, dass er geistig nicht zurechnungsfähig sei. Genüsslich wird ein Brief Ganswindts an den Kriegsminister von Goßler zitiert, in dem er schreibt, dass er eine einmalige Entschädigung von 20 Millionen Mark verlangen würde für den Fall, dass die deutsche Regierung die Erfindung der Flugmaschinen als Staatsgeheimnis erwerben wolle. Allerdings müssten die 20 Millionen Mark dann sofort sichergestellt werden. Außerdem müsste der Staat eine Flugmaschine zum Preis von 200.000 Mark bestellen und sofort 100.000 Mark zur Fertigstellung der Probearbeiten anzahlen. Von den 20 Millionen Mark brauche Ganswindt die Hälfte zur Befriedigung sämtlicher Geldgeber, den Rest zur Vervollkommnung seines „Weltenfahrzeugs“, mit dem er den Mars in 24 Stunden erreichen könne.
Der Untersuchungsrichter fordert mehrere Gutachten über die Flugmaschine an, unter anderem von der Berliner Luftschifferabteilung und dem Charlottenburger polytechnischen Verein. Die Freunde Ganswindts versuchen indessen, eine hohe Kaution zur Haftentlassung zusammenzubringen. Nach einem Lokaltermin auf dem Ausstellungsterrain am Mariendorfer Weg bleibt der Erfinder fürs Erste in Haft. Am Abend des 29. Mai 1902 allerdings treffen sich die zum Lokaltermin zugezogenen Sachverständigen – Baurat Herberg, Diplomingenieur de Stoutz, Baurat Hausbrandt und Ingenieur Crohn – nach eingehenden Vorstudien zu einer Beratung. Das gemeinsam verfertigte schriftliche Gutachten über die Beschaffenheit und den Wert von Ganswindts Erfindungen übergeben sie Landrichter Reuter. Obwohl die Funktionstüchtigkeit des Hubschraubers darin bewiesen wird, bleibt Ganswindt weiterhin verfemt.
Als er am 12. Juni 1902 nach acht Wochen Haft entlassen wird, ist sein Lebenswerk ruiniert. Trotz erwiesener Unschuld widerfährt ihm keine Gerechtigkeit. Bei einem von ihm angestrengten Rehabilitierungsprozess verschwinden 1904 alle Prozessakten. Ganswindt muss einen Offenbarungseid leisten und von der Wohlfahrt leben. 1912 stirbt seine Frau, mit zehn Kindern steht er nun allein. 1913 muss er sein Terrain in Schöneberg aufgeben. Der Flugapparat wird bei Zossen eingelagert und dort während des Ersten Weltkriegs gestohlen.
In den Zwanzigerjahren schließlich feiern ihn Valier und andere als Vorkämpfer der Weltraumfahrt. Der greise Ganswindt kann noch brausende Beifallsstürme entgegennehmen und mit den Koryphäen seiner Zeit korrespondieren. Zum Beispiel mit Professor Rynin, dem Leiter der interplanetaren Sektion in Leningrad, der die erste Raketen- und Raumfahrtausstellung der Welt aufbaut. Bis zu Ganswindts Tod erscheinen eine ganze Reihe von Artikeln, die seine Verdienste für die Technik herausstreichen. Als er 1934 stirbt, sind die letzten Worte an seine zweite Frau: „Ich habe es nicht mehr erleben dürfen, aber du wirst es noch erleben.“ Auch damit erweist er sich als Prophet: Da einer der Söhne von Ganswindt bei Wernher von Brauns Weltraumprogramm mitarbeitet, kann Ganswindts Witwe tatsächlich den ersten Abschuss einer Rakete zum Mond am Cape Kennedy miterleben.
Ganswindts Tochter erhält als Greisin kurz vor ihrem Tod 1975 ein Schreiben vom Bezirksamt Schöneberg, in dem es um eine Autobahnbrücke geht. Das Amt „hat beschlossen, diesem Bauwerk den Namen ‚Hermann-Ganswindt-Brücke‘ zu geben, weil Ihr Herr Vater um die Jahrhundertwende an gleicher Stelle seinen Erfindergeist zu Schau gestellt hat“. Auch ein Krater auf der Rückseite des Monds, gelegen zwischen dem 100. und dem 110. Längengrad und dem 76. und dem 80. Breitengrad, trägt seinen Namen.