: Die schrecklich sanften Patronen
Berliner Polizei bekommt neue Munition. Die Deformationsgeschosse verformen sich beim Aufprall. Das soll das Risiko von Querschlägern vermindern. Das Risiko schwerer Verletzungen steigt aber, sagen Kritiker. Die findet man auch in der Polizei
von OTTO DIEDERICHS
Ende Januar werden rund 21.000 Berliner Polizeibeamte und -beamtinnen mit neuer Munition versorgt. Berlin gehört damit zu den letzten Bundesländern, die ihre polizeilichen Waffenträger mit neuen Patronen ausstatten. Begonnen hatten damit im Oktober 2000 Bayern und Baden-Württemberg. Bislang verwenden die Berliner Beamten so genannte Vollmantelgeschosse, deren Ummantelung verhindert, dass sich die Patrone bei einem Körpertreffer verformt oder zerlegt. Bei der neuen „Action 4“-Munition handelt es sich nun um Deformationsgeschosse. Sie verformen sich unmittelbar beim Aufprall und geben dabei den größten Teil ihrer Energie ab.
Die Gefahr von Querschlägern wird dadurch weitgehend gemindert, im menschlichen Körper allerdings richtet das Geschoss erheblich größere Verletzungen an als die bisherige Munition, da sich die ganze Schussenergie auf die getroffene Stelle konzentriert. Je stärker sich nämlich die Patrone verformt – man spricht von „Aufpilzen“ –, desto größer ist die Energieabgabe und umso schwerer meist die Verletzung. Kritiker warnen vor der Gefahr, dass zentrale Blutgefäße zerreißen und irreversible Schädigungen in Gewebe und Knochen entstehen können. Ein tödlicher Schuss, der allein auf die Deformationsmunition zurückzuführen ist, ist bisher nicht bekannt. Allerdings untersucht das thüringische Innenministerium derzeit einen Fall aus dem Sommer 2002.
Rechtlich ist die Entscheidung von Innensenator Ehrhart Körting (SPD) indes durch einen Beschluss der Innenministerkonferenz (IMK) aus dem Jahr 1999 gedeckt. Hintergrund war ein tragischer Fall in München. Dabei hatte eine Polizistin aus kurzer Distanz auf einen Mann geschossen, der sie mit einem Messer angegriffen hatte. Der Schuss durchschlug den Körper des Angreifers und tötete auch den dahinter stehenden Mann.
Seither suchte die IMK nach einer Polizeimunition mit sofortiger „Mann-Stopp-Wirkung“, die den Getroffenen sofort angriffs- und fluchtunfähig machen soll. Solche Patronen hat die Waffenbranche inzwischen entwickelt. Ganz billig sind sie jedoch nicht. So wird Berlin nach Informationen der taz für die neue Munition jährlich rund 63.000 Euro mehr ausgeben müssen als bisher.
Ebenso wie andere Patronen hat auch die „Action 4“-Munition der Firma Dynamit Nobel das vorgeschriebene Zertifizierungsverfahren bestanden, bei dem das Geschoss aus fünf Meter Entfernung nicht tiefer als 20 bis 30 Zentimeter in das Simulationsmaterial Gelatine eindringen darf. Durch diese Vorgabe sollen beim „Weichziel“ Mensch die zu befürchtenden Schwerstverletzungen minimiert werden und bei Knochentreffern die Knochenhaut weitgehend erhalten bleiben.
Ethische und rechtliche Probleme bleiben dennoch: Darf die Polizei einen Menschen bewusst schwerer verletzen als unumgänglich nötig, ohne gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu verstoßen? Die Innenminister argumentieren, dass die Verhältnismäßigkeit durchaus gewahrt sei, weil Unbeteiligte durch die neue Munition weniger der Gefahr von Querschlägern ausgesetzt seien.
Professor Oesten Baller, der an der Berliner Fachhochschule den Polizeinachwuchs ausbildet, hat hingegen in dem in Berlin erscheinenden Informationsdienst Bürgerrechte & Polizei bereits im Frühjahr 2000 gewarnt: „Im Prinzip darf Deformationsmunition (…) nur unter den Voraussetzungen gegen Menschen eingesetzt werden, in denen (…) ein finaler Rettungsschuss für zulässig gehalten wird. (…) Eine allgemeine Ausrüstung der Polizei mit einer Munition, die zu einer erheblich größeren Gefährdung und so zu einer größeren Wahrscheinlichkeit eines tödlichen Risikos für den Betroffenen führt, ist mit dem verfassungsmäßigen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit schwerlich in Einklang zu bringen.“