: Abends voll solidarisch
Uwe Wesel sympathisiert mit der 68er-Bewegung, ohne ihre Hybris zu teilen. Er blickt als linker Bürger auf das Geschehen – pointiert, kritisch und ironisch. Das macht sein Buch lesenswert
von STEFAN REINECKE
Keine Ära der neueren Geschichte ist so gründlich untersucht und bewertet worden wie die späten 60er-Jahre. Die Veteranen der Bewegung haben ihre Erinnerungen verfasst, Wissenschaftler Materialbände herausgegeben, Feuilletonisten Resümees und Abrechnungen veröffentlicht. Schon seit längerem hat sich, von Richard von Weizsäcker bis zu manchen Linksradikalen, eine Art bundesrepublikanischer Common Sense herauskristallisiert: Die Kulturrevolte (die in Deutschland übrigens 1967 stattfand) hat mit einem Knall die sittenstrenge, gegen jeden Wandel abgedichtete, patriarchale Adenauer-Republik beendet und eine fundamentale Liberalisierung durchgesetzt. Jürgen Habermas hat schon vor fünfzehn Jahren auf die Frage, was die Revolte bewirkt habe, geantwortet: Rita Süssmuth.
1968 war insofern eine groß angelegte Selbsttäuschung der Akteure, der Aufstand ein Beispiel, dass Absicht und Wirkung weit auseinander fallen können. Die Rebellen schrieben die Weltrevolution und globale Gerechtigkeit auf ihre Fahnen – faktisch verhalfen sie mit ihrer antiautoritären Verve einem hedonistischen, flexibleren Kapitalismus zum Durchbruch. Auf der Habenseite der Revolte steht: Seit 1968 ist der Geist des Egalitären und Liberalen in die Gesellschaft eingesickert. Dieser Geist hat sich als hartnäckig erwiesen. Er hat den deutschen Herbst und Helmut Kohls Rollback-Versuche überlebt. Das ist nicht gerade, was der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) 1968 wollte, aber auch nicht schlecht. Mehr noch: Wenn man sich die vagen Zukunftspläne und antiinstitutionellen Affekte der Rebellen Ende der 60er-Jahre und ihren steinernen Marxismus in den 70ern vergegenwärtigt, erscheint gerade diese Verfehlung als glückliche Fügung.
Warum also noch ein Buch über 1968? Ist nicht alles gesagt? Uwe Wesel erzählt nichts grundstürzend Neues, versucht auch keine extravagante Deutung, hat aber eine andere Perspektive. Er kommt 1968 von München nach Berlin und wird Juraprofessor an der Freien Universität (FU). Sein Blick ist der eines linken Bürgers, eines interessierten Zuschauers, nicht der des Aktivisten. Er sympathisiert mit der Bewegung, ohne ihre Hybris zu teilen.
Er wundert sich über die Wahnidee der Rebellen, die glauben, die Machtfrage stellen zu können, schätzt aber die umfassende Lockerung der Sitten. 1969 zieht er in eine WG: „Wenn ich morgens um halb neun zur Vorlesung ging, schliefen die Revolutionäre natürlich noch und ich beneidete sie. Wenn ich gegen elf zurückkam, waren sie immer noch nicht aufgestanden, und selbst Dienstag um halb zwei waren sie noch in den Federn. Aber abends voll solidarisch mit der Arbeiterklasse und hin und wieder versteckte Hinweise auf meine privilegierte Stellung als Hochschulprofessor und Klassenfeind. Nun ja, das war zu ertragen. Sie waren lieb und nett. Ich räumte die Küche auf. Auch im Badezimmer versuchte ich es ab und zu. Dann aber. Dann aber lief mir morgens ein kleines Tier auf den Fliesen entgegen, eine Wanze. Schwarz, ekelig und sehr langsam. Das war’s. Ich suchte eine eigene kleine, saubere Wohnung, obwohl es dort bei weitem nicht so malerisch war wie in dieser schönen WG.“
„Die verspielte Revolution“ mischt den großen Erzählungen über die Revolte einen neuen Ton bei: freundliche, ironische Distanz, Sinn für Pointen, britisches Understatement. Dass die Revolte vorbei ist, merkt Wesel eines Abends in einer verrauchten APO-Kneipe: Die schönen Frauen sind nicht mehr da. In den analytischen Passagen beschreibt Wesel die trostlose Mechanik der Auseinandersetzung: Die Studenten provozieren, basteln Puddingbomben, veralbern den Staat. Die Autoritäten – Justiz, Polizei, Springer-Presse und Universitätsobere – antworten stets beleidigt und aggressiv: auch wenn Studenten nur das Selbstverständliche fordern, etwa die Absetzung eines Professors für Japanologie, der, wie in Berlin geschehen, kein Japanisch kann und betrunken zur Vorlesung kommt. Am 2. Juni 1967 erschießt ein Polizist Benno Ohnesorg. Der Berliner Senat vertuscht den Skandal, die Bild-Zeitung hetzt weiter gegen den SDS, der Polizist wird freigesprochen. Das Muster ist stets gleich, die Eskalation unaufhaltsam. Die rebellische Nachwuchselite sieht fortan in der Republik postfaschistischen Schwindel – die vom Krieg traumatisierte und vom Wiederaufbau geprägte Mehrheitsgesellschaft in den Studenten Störenfriede, denen es einfach zu gut geht.
Wie es weiterging, ist bekannt. Die meisten 68er wurden Soziologieprofessoren oder Beamte, ein paar tausend Berufsrevolutionäre (zum Glück mit Rückfahrtticket), eine Hand voll machte Ernst mit dem Gewaltspiel und endete in Stammheim. Die RAF war ein originäres Ergebnis von 1968, die zur Wirklichkeit gewordene Gewalt- und Rachefantasie, die seit der Nacht des 2. Juni 1967 in vielen Köpfen herumspukte. Doch die RAF war auch ein Ergebnis der betonierten Sprachlosigkeit zwischen Mehrheit und Minderheit. „27 Jahre Terrorismus in der Republik. Das war 1970 völlig unvorstellbar. Einer der Gründe dafür war ständiges staatliches Fehlverhalten, übermäßige Härte von Gerichten und in den Gefängnissen. Das Ergebnis waren 72 Tote, davon 29 Mitglieder der RAF“, schreibt Wesel. Vielleicht hätte dieser Krieg befriedet, vielleicht hätte die eiserne Mechanik von Repression und Terror durchbrochen werden können, wenn es von Beginn an mehr Dolmetscher zwischen Revolte und Mehrheit gegeben hätte. Mehr Leute, die beide Codes beherrschen. Mehr Leute wie Uwe Wesel, der von 1970 bis 1973 als Vizepräsident der FU zwischen Universität und Studenten zu vermitteln versucht. (Davon erfährt man leider wenig, zu wenig.)
Die Texte und Bilder von 1968 und auch der RAF sind Geschichte geworden, eine Vergangenheit, mit der wir nur mittelbar etwas zu tun haben. Im bundesdeutschen Kollektivgedächtnis ist 68 als schulbuchtauglicher Beweis gespeichert, dass auch wir, brave, notorisch revolutionsunlustige Deutsche, mal rebellieren können, so wie es sich für ordentliche Demokraten gehört.
Wesel weiß das, versucht nicht, Verlorenes zu retten oder Geister von gestern zu beschwören. Sein Essay erzählt manchmal zu viel Bekanntes und zu wenig Selbsterlebtes. Aber es ist eine Interpretation gegen den Trend. „Die verspielte Revolution“ ist ein Korrekturzeichen zu den zerknirschten Generalabrechnungen mit den linken Irrtümern, die seit ein paar Jahren Konjunktur haben. Denn manche 68er haben ihre antidemokratischen und antiinstitutionellen Affekte so gründlich überwunden, dass sie inzwischen genauso klingen wie jene, gegen die sie einst auf die Straße gingen. Wesel nicht. Er urteilt verständig, abwägend, mild, aber nicht unkritisch. Es war nicht seine Revolte. Deshalb braucht er keine Distanzgesten. Auch deshalb ist es ein lesenswertes Buch. Kein notwendiges, aber, gerade in den biografischen Passagen, ein verspieltes. Nicht das Schlechteste bei dem Thema.
Uwe Wesel: „Die verspielte Revolution, 1968 und die Folgen“. 350 Seiten, Blessing Verlag, München 2002, 22,90 €