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Archiv-Artikel

Die innere Provinz

Provinz ist immer nur dort, wo man selbst gerade glaubt, nicht zu sein. Ein angstbesetzter Ort, an dem aufzuhalten man sich schämen muss und an den man – wenn es hart kommt – verbannt wird wie Kurt Beck (zurück) nach Mainz.Die Provinz, das ist die Hölle. Zumindest für all jene Menschen, die ihr mit Mühe und Not entronnen sind, so wie ein großer Teil der Bewohner Berlins. Deutsche Hauptstadt – gerade ihre neuen Eliten und Meinungsführer stammen eigentlich aus Gemeinwesen, die sich sogar geschmeichelt fühlen würden, wenn man sie mit Zehlendorf vergliche. Wenn Sie übrigens nicht wissen, was Zehlendorf ist, dann sind Sie bereits provinziell: Es handelt sich um einen Stadtteil von Berlin, der von Hauptstadtjournalisten mit Wohnsitz in einem der Innenstadtbezirke als Synonym für (klein-)bürgerliche Spießigkeit verwendet wird. Die Selbstverständlichkeit, mit der dieses Synonym verwendet wird, verweist jedoch auf ein inneres Hannover, ein unhinterfragtes Detmold, das sich hinter selbiger nur mühsam verbirgt. Hinter der Stadtmauer beginnt gleich der Balkan, und wo „der Kröpke“ ist, weiß doch nun wirklich jedes Kind. Auch in Rheinland-Pfalz gibt es Menschen, die sich ob der „Provinzialität“ eines Kurt Beck schämen. Neurotische Fremdschämer mit eckigen Designer-Brillen, Inhaber kleinstädtischer Werbeagenturen und Boutiquen, die jeden Tag dem lieben Gott für die Globalisierung danken. Think globally, act locally – genau, denn diese verhasste, peinliche, von allen Informationen und Moden abgeschnittene Provinz gibt es schon lange nicht mehr. Auch in kleinen Städten und Flecken gibt es WLAN-Cafés, Shisha-Lounges, amazon.com und eine gute Anbindung an den nächsten Billig-Carrier-Airport. Solche Fremdschämer schämen sich dafür, noch immer oder schon wieder in der Provinz zu sein. Diejenigen, die es geschafft haben, ihr zu entrinnen, haben nun häufig nichts anderes im Sinne, also ebendiese in der Diaspora der Großstadt neu zu errichten. In der Weltstadt Berlin zum Beispiel wartet an jeder Ecke ein Lokal, das mit Spezialitäten aus den jeweiligen Herkunftsregionen der Migranten aufwartet: Spätzle, Schäufele, Semmelknödel. Selbstverständlich behält man seine „Mundart“ bei und pflegt sie, indem man einen landsmannschaftlichen Freundeskreis pflegt.Solange er nur fern bleibt, der Alptraum einer deutschen Kleinstadt am Sonntagnachmittag mit seiner Ödnis, den im Geiste geradezu fühlbar vorbeiwehenden Dornenbüschen, die durch die leere Fußgängerzone rollen. „In der Provinz gibt es doch bestimmt auch nette Menschen“, sagte neulich eine junge Frau, die sich aufgrund familiären Nachwuchses mit der Frage auseinandersetzt, ob sie nicht doch aufs Land ziehen soll.Dazu ist sie dann auf einmal wieder gut, die so gerne gescholtene Provinz: als Brutstätte und Aufzuchtsort für den Nachwuchs, dessen Leben dann jahrelang am Wendehammer einer Vorort-Siedlung endet. Woraufhin selbiger nur noch eines im Sinn hat: bei der nächsten Gelegenheit in die nächste Großstadt zu entkommen.Familiäre Delegation oder ganz einfach ein tragischer Teufelskreislauf?Provinz ist natürlich, was man daraus macht – wovon insbesondere jene Land- und Kleinstadtbewohner ein fröhliches Lied singen können, die zuvor die Gelegenheit hatten, sich in der großen, weiten Welt auszuprobieren. Sei es als fahrender Geselle, Studierender oder Industrienomadin. Denn wer schon mal jenseits der Stadtmauer gelebt hat, weiß ja, dass es viel aufwändiger ist, zum Balkan zu gelangen. Autochtone brauchen für diese Erkenntnis womöglich etwas länger, kommen aber irgendwann auch dahinter. Die Provinz zu verdammen, Angst vor ihr zu haben, sie zu schmähen und sich über sie lustig zu machen, ist hingegen erstens einfallslos und zweitens ganz schön langweilig. Es braucht also mehr Bildbände über die Langeweile im Urbanen, mehr Romane und Erzählbände, die von einem erfüllten, aufregenden Leben in angeblich randständigen Regionen berichten. A propos randständig: Dort, wo früher in Deutschland sogenannte Zonenrandgebiete von Zöllnern streng bewacht wurden, sind heute lässig durchlässige europäische Grenzen. Auch in Rheinland-Pfalz, das sich an seinen Rändern auf das Fröhlichste mit Frankreich, Luxemburg und Belgien austauscht. MARTIN REICHERT